Hinter-Listen

„Obstsalat ruft an“ steht auf dem Display und ich ertappe mich dabei, die Augen zu verdrehen.

Das ist eigentlich nicht meine Art, da ich ihn schon immer sehr mochte. Obstsalat – so nenne ich meinen Opa, der gar nicht mein richtiger Opa ist. Zumindest nicht biologisch betrachtet. Wir haben ihn sozusagen in die Familie adoptiert, als ich klein war.

Seit ich mich erinnern kann, wohnt er schon neben meinem Elternhaus. Er war immer da und seine Tür stand für mich immer offen. Er brachte mir Dinge bei, die meine Eltern nicht konnten. Er half mir bei meinen Hausaufgaben, dafür versorgte ich seine Schildkröten. Er tat so, als würde ich ihm damit einen riesigen Gefallen tun, wusste aber, dass es mir einen Heidenspaß bereitete. Obstsalat wurde auch gerne von meinen Eltern als Babysitter beansprucht, da jeder wusste, dass es wohl niemanden auf der Welt geben kann, auf den mehr Verlass war. Warum? Er hatte einen Tick für alles eine Liste zu verfassen.

Akribisch erarbeitete er Notfallpläne, falls ein solcher eintreten würde. Er beschrieb jeden einzelnen Schritt, was bei einer Lebensmittelvergiftung, einer Schnittwunde, einem Kreislaufkollaps, Hausbrand oder Wasserschaden zu tun wäre. Darunter standen Adressen und Telefonnummern von Krankenhäusern in der Umgebung, Notärzten, seinem und meinem Hausarzt und Personen die bei Unfall oder Todesfall kontaktiert werden sollen. Er fasste zusammen, wie viele Beatmungen bei wie vielen Herzmassagen nötig seien, welche Medikamente sich im Haus befinden und wofür sie sind. Darunter standen seine aktuellen Impfungen und die Termine der nächsten Vorsorgetermine.
Eine solche Auflistung wirkt natürlich entsprechend beruhigend auf die Eltern. Und ich hatte viel Spaß mit ihm, konnte seine alphabetisch geordneten Bücher lesen und mir jederzeit etwas aus seiner ausführlichen Musik- und Filmliste ausleihen, was natürlich auf der Verleihliste vermerkt wurde.

Er brachte mir das Tanzen bei. Wir unternahmen viel und er ergänzte regelmäßig eine Liste der möglichen Freizeitaktivitäten der nächsten Wochen mit meinen Ideen und Wünschen. Beim Stadt, Land, Fluss spielen schummelte er, indem er sich schon vorher mögliche Antworten zu jedem Buchstaben überlegte, aufschrieb und auswendig lernte. Bei Scrabble hatte er jedoch keine Chance gegen mich.

Während dem gemeinsamen Kochen lag neben dem Rezept stets eine Liste der Lebensmittel, die als krebserregend eingestuft wurden. Wenn er andere zum Essen einlud, führte er eine Gästeliste und stellte Namenskärtchen auf den Tisch. Er war ein sehr guter Gastgeber, erheiterte immer wieder mit Witzen und Sinnsprüchen, die er sich aufschrieb, um sie im passenden Moment spontan abrufen zu können. Andere belächelten diese Eigenheiten häufig, ich fand sie sympathisch.

Geburtstage vergaß er nie, da er sie in seinem Adressbuch und im Kalender notiert hatte. Auch die Geschenke, die er von anderen bekam, listete er feinsäuberlich auf, damit ihm kein Missgeschick beim Weiterverschenken unliebsamer Dinge passieren konnte. Dafür schrieb er während dem Jahr mit, wenn ihm etwas einfiel, was jemandem als Geschenk gefallen könnte und ersparte sich somit zum Beispiel den stressigen Weihnachtseinkauf. Einkäufe wurden prinzipiell in einem Haushaltsbuch aufgeführt, wodurch er mir auch immer wieder wehmütig präsentieren konnte, wie teuer das Leben im Laufe der Zeit doch wurde.

Er führte eine Statistik über die Häufigkeit und Seltenheit der gezogenen Lottozahlen. Dadurch bekam er das Gefühl, irgendwann wahrscheinlicher einer der Millionenglückspilze zu werden. Als ich ihn vor langer Zeit einmal fragte, was er an sich oder seinem Leben ändern würde, wenn er es nochmals leben könnte, begann er eine Liste darüber zu führen. Fremdsprachen wollte er lernen und schrieb ab diesem Zeitpunkt immer wieder Sätze ab, die er nicht aussprechen konnte. Auch Fremdwörter, die er nicht kannte, strich er in Büchern mit einem Textmarker an und schrieb aus dem Wörterbuch die Übersetzung daneben.

Für meine ersten Bewerbungen schrieb er mir eine Liste der Berufe, die seiner Meinung nach zu mir passen könnten. Hinter jedem Beruf waren Universitäten die in Frage kämen oder Firmen, bei denen ich mich bewerben könnte aufgeführt. Er gab sich unheimlich viel Mühe und wollte unbedingt, dass ich glücklich bin. Er gab mir einen Schlüssel für sein Haus und erklärte mir die Checkliste, die abgearbeitet werden muss, bevor das Haus verlassen wird. Damit konnte er beruhigt sein, dass z.B. die Kaffeemaschine aus ist. Er sammelte Fotos. Jedes Jahr machte er eines von mir und klebte es in ein Album.

Ich war seine Familie. Was sehr traurig ist, denn er hatte sich immer eine eigene Familie gewünscht. Er sprach zwar nie darüber, aber ich entdeckte einst unter seinen vielen Listen eine, bei der er mögliche Vornamen für seine Nachkommen aufgeführt hatte. Darunter stand, was er in seinem Leben noch alles erleben und erreichen wollte. Kaum etwas davon hatte er je durchstreichen können. Bei den angegebenen Urlaubszielen setzte er einen Haken hinter Österreich und Tschechien.

Und nun ruft er mich an, nachdem ich mich erst vor zwanzig Minuten von ihm verabschiedet hatte.
„Ja?“
„Hallo Liebes! Bist du noch in der Nähe?“
Er klang hilflos und flehend.
„Ich bin bei meinen Eltern. Brauchst du etwas?“
„Ja, ich stehe hier im Laden um die Ecke. Kannst du mir bitte meine Einkaufsliste vorbeibringen?“

Verbreiten, teilen, infizieren!