So nenne ich dich nach den vielen Jahren, die wir uns nun kennen. Du fühlst dich geschmeichelt, doch klingt es positiver als es gemeint ist. Du scheinst dich nicht mehr an das Märchen aus Kindertagen zu erinnern, sonst wäre dir klar, dass ich mit diesem Kosenamen nicht ausdrücken will, wie tapfer und arbeitsam du bist. Vielmehr könntest du der moderne Protagonist der Geschichte sein. Dass du, wie das Schneiderlein auch gerne Süßigkeiten magst, ist dabei die geringste Gemeinsamkeit.
Wie die Frau mit ihrem Pflaumenmus aus dem Märchen, lässt du die Menschen um dich herum hart arbeiten, ohne auf die Idee zu kommen, deine Hilfe anzubieten, selbst wenn du ihnen ohne großen Aufwand entgegen kommen könntest. Dein kritischer Blick ist stets schwerwiegender als dein Lob oder die Bezahlung für sämtliche Mühe. Dabei bist du dir dessen nicht mal bewusst und tust gönnerhaft, als wäre es der Traum eines jeden, dir dienen zu dürfen. Unsensibel wie du bist, reagierst du nicht mal auf offensichtlich ausgelebten Ärger, der sich gegen dich richtet, so sehr bist du mit dir selbst beschäftigt. Das Positive dabei ist, dass du andere Menschen dazu aufforderst, ihre Position zu überdenken und sie anspornst, für ihren Erfolg zu kämpfen.
Allerdings hast du keinerlei Skrupel, unerwünschte Konkurrenz abzuhängen oder überflüssige Mitarbeiter raus zu werfen, haust mit der Kündigungsklatsche einmal ordentlich obendrauf, sodass du am besten alle auf einen Streich erwischst, um dir nur einmal Gedanken machen zu müssen. Mitgefühl heucheln steht dir nicht besonders gut. Fühlst dich dabei wie ein Held, der seine Macht ausleben kann, die bisher von allen verkannt wurde. Was für ein toller Hengst du bist, musst du natürlich entsprechend aller Welt zeigen und fängst dabei im gesamten Bürogebäude an, nur dass du im Gegensatz zum Schneiderlein auf den Gürtel verzichtest und es lieber durch persönliche Mundpropaganda kundtust.
Damit das Eigenlob nicht anfängt zu stinken, steckst du dir auf dem Weg die Lorbeeren anderer Mitarbeiter in deine eigene Tasche und verkaufst deren Ideen als die deinigen. Sobald du selbst merkst, nichts Neues bieten zu können, siehst du dich auf anderen Schreibtischen um. Soll nicht heißen, dass du nicht ehrgeizig oder zielstrebig wärst, im Gegenteil. Sobald du Erfolg in Aussicht hast und ein Ziel anvisierst, nimmst du alle Hürden in kauf und opferst einige Tropfen Schweiß, um den beschwerlichen Weg dorthin zu bestreiten. Sollte dir dabei ein Riese begegnen, der sich für etwas Besseres hält als du es je sein kannst, greifst du in deine Trickkiste, gibst dich gewohnt cool und versuchst dir durch angebliche Heldentaten Respekt zu verschaffen. Durch dein zwar unscheinbares, doch sehr selbstsicheres Erscheinungsbild suggerierst du Macht, Erfolg und Können. Schließlich soll jeder sehen, wie weit du es schon gebracht hast. Dass du dabei gelegentlich schummelst und nicht jede deiner Angebereien gerechtfertigt ist, stört dich dabei nicht.
Du belächelst das Klagen deiner Angestellten, die nicht mal merken, dass sie deinen Job teilweise mit erledigen und tust dabei so, als hätte niemand außer dir jemals hart gearbeitet. Deine eigenen Schwächen tust du als Stärken hervor und gibst anderen die Schuld an deinem Versagen.
Durch so viel Erfolg und Einfluss wirst du Prestige halber entsprechend häufig zu den wahrhaft Großen und Reichen eingeladen, die dir jedoch lieber den Garaus machen würden, als sich ernsthaft mit dir zu beschäftigen. Aus Narzissmus bist du jedoch blind dafür und glaubst aufgrund deiner angeblichen Leistungen allseits beliebt zu sein.
Selbst wenn du spürst, dass dir jemand überlegen ist, lässt du dir dies nicht anmerken und gibst dich lieber als Verbündeten aus, um den Profit einzuheimsen, der vom anderen erzielt wurde. Diese Masche flog bisher nie auf, weil jeder glaubt, du hättest nicht grundlos so viel Macht über andere Menschen und deren Zukunft. Die wenigen, die deine Existenz in der Arbeitswelt hinterfragen, müssen entweder ihren Job fürchten, oder werden von dir herablassend als neidisch und faul bezeichnet. Sogar dein eigener Chef hat Angst vor dir und sieht lieber zu, wie andere seiner Mitarbeiter wegen dir drohen zu gehen, anstatt dich zu kündigen. Stattdessen bietet er dir, wie der König im Märchen, weitere Aufstiegschancen an, wenn du entsprechende Taten vollbringst. Dies spornt dich natürlich weiterhin zu Höchstleistungen an, da es eine neue Möglichkeit darstellt, wie du sämtliche Aufmerksamkeit auf dich ziehen kannst.
Hilfe die du angeboten bekommst, lehnst du kategorisch ab, da sie deiner Großartigkeit im Wege stehen könnte und du am liebsten allein vor dich hin arbeitest, damit niemand sieht, welchen Hinterlistigkeiten du dich bedienst. Wenn es sein muss, intrigierst du, manipulierst und spielst andere gegeneinander aus, um selbst gut dazustehen, würdest sie sogar im Schlaf überraschen, wie die zwei Riesen im Märchen. Vor den unmöglichsten Herausforderungen scheust du dich nicht und schlägst deine Gegner oder Konkurrenten dabei gewitzt mit ihren eigenen Waffen, auch wenn dies nicht immer fair ist.
Wenn es um erfolgreiche Abschlüsse geht, scharst du die Zuschauer gerne um dich und sonnst dich im Ruhm, der eigentlich keiner ist. Da dies niemand weiß, schmückst du die Erfolgsgeschichte gerne auch mal etwas bunter aus. Du brauchst die Bewunderung und beeindruckst andere durch deine Täuschung. Ich will nicht verschweigen, dass du auch immer wieder eigene gute Ideen hast und ein kreativer Kopf bist, der immer geschafft hat, was er sich vorgenommen hat. Jedoch neigst du häufig zu Übertreibung und Selbstüberschätzung und würdest am liebsten die Welt erobern. Ich gehe davon aus, dass du damit deine Selbstzweifel kompensierst.
Am Ende aller Anstrengungen steht natürlich, wie auch im Märchen, die Frau deiner Begierde. Doch auch sie siehst du nur als Preis oder persönliche Trophäe an, da es dir in allen Bereichen des Lebens nur um die Zurschaustellung deiner Selbst geht. Du siehst in ihr eher die Mutter deiner Kinder, als die Person, die du liebst, überhäufst sie jedoch mit großzügigen Geschenken, um dich unvergesslich oder unentbehrlich zu machen. Dass sie dich eigentlich gar nicht will und nie wollte, blendest du gekonnt aus und zwingst sie in dein leistungsorientiertes Leben, wie du es auch mit allen anderen machst. Dennoch kannst du nicht gut allein sein und fühlst dich sofort einsam. Du bist eifersüchtig und hast Angst vor selbstbewussten Frauen. Erst recht, wenn sie dir beruflich im Wege stehen.
Ich bin mir sicher, dass du dich niemals ändern wirst und für immer in deiner jetzigen Position ausharren wirst, dich vom Unglück anderer nährend. Ich für meinen Teil werde heute aussteigen, mein eigenes Glück suchen und nehme mir fest vor, deine kommenden Drohungen bezüglich meiner Zukunftsperspektiven zu ignorieren. Du hast mich gelehrt, nach den Sternen zu greifen und stets Führungspositionen anzustreben. Somit lieber Chef, wirst du bald auch vor mir Angst haben müssen und darfst dir nun eine neue Sekretärin suchen. Betrachte meine Worte als Kündigung. Fristlos, versteht sich.
