Schenken wir der Evolutionstheorie Glauben, sind wir die dominantesten, schönsten, gesündesten, anpassungsfähigsten, – schlicht die tollsten Lebewesen, die je existierten.
Vielleicht liegt es an der menschlichen Bescheidenheit, die kein Gespür für eigene Fähigkeiten und Besonderheiten aufkeimen lässt, oder auch an den maßlosen Erwartungen, sowie der übersteigerten Kritikfreude meiner Umgebung, die mir von Kind auf vermittelt hat, nicht zu genügen. Bereits zur Schulzeit, vermutlich schon früher, loderte der anerzogene Vergleichswahn immer wieder auf. Es gab zu jeder Zeit jemanden der klüger, besser, sportlicher, begabter war; jemanden mit angesagteren Klamotten, teureren Schuhen, tolleren Weihnachtsgeschenken. Das was ich selbst vorzuweisen hatte, womit ich versuchte Eindruck zu schinden, war im direkten Vergleich ebenso kümmerlich wie erniedrigend. Mir war nie klar, ob diese ständigen Vergleiche der Abgrenzung, dem Anderssein oder dem Bessersein dienen sollten. Die übrigen meiner Unzulänglichkeiten, wurden von den feinen Nasen der Lehrer aufgespürt, um sie auf ihrer Bühne breit zur Schau zu stellen. Doch selbst für Witze auf meine Kosten, reichte es nicht. Unscheinbar und ungenügend.
Desolat packte ich die kaum ausreichenden Noten ein und spie sie Zuhause aus, während mir, in der bitteren Brühe des Alltags sitzend, erneut aufgezeigt wurde, dass ich nicht genüge. Ein zweites Kind wurde sich immer gewünscht, weil ich allein zu wenig war. Nicht ordentlich genug, nicht schlank genug, nicht höflich genug, nicht fleißig genug; zu jung um über bestimmte Themen zu sprechen, zu alt um kindisch sein zu dürfen; ich half zu wenig im Haushalt und guckte zu viel fern. Die Medien wiederum zeigten mir auf, dass man fortwährend immer das Beste aus sich holen sollte. Besseres Hautbild, mehr Wissen, tollere Urlaube, gesündere Ernährung, attraktiveres Aussehen. Nie wurde ich all den Erwartungen und Anforderungen gerecht; keinerlei Möglichkeit, das Selbstwertgefühl auf ein Mindestmaß anzureichern. Die perfekte Bildschirmwelt blieb mir verschlossen und niemand war in der Lage Komplimente auszusprechen, wodurch ich eine Unfähigkeit entwickelte, selten vorkommende nette Worte ernst zu nehmen. Als ich meinen ersten Freund nach Hause brachte, war auch dieser nicht gut genug. Kurz darauf verließ er mich, weil er nicht genügend für mich empfand. Dann reichte ich mir selbst nicht mehr.
Ich wollte ebenso unmerklich ausbrechen, wie ich gefangen war; saß die Zeit ab, so wie ich ständig jede Stunde, an jedem Tag, in jeder Woche einfach nur absaß. Mir fehlte der rote Faden, wie man ihn aus Büchern kennt und wusste nicht mehr, an welcher Stelle ich aufgehört hatte zu leben, wollte am liebsten von vorn anfangen oder ein Neues beginnen. Während ich im Dunkel kauerte und versuchte Kraft für die kommende Flucht zu sammeln, nahm ich mir vor, damit aufzuhören, mir mein eigenes Grab zu schaufeln, für welches ich objektiv betrachtet viel zu groß war. Statt zu kapitulieren, weigerte ich mich weiterhin in Rollen zu schlüpfen, die mir nicht standen, die ich nicht erfüllen konnte. Ich streifte mir das Kostüm der Angepasstheit ab und wollte von nun an aus dem Schatten der Ja-Sager ins Scheinwerferlicht treten, um anders zu sein. Jemand anderes zu sein! Ich wollte alles und nichts. Somit war ich plötzlich dagegen – gegen alles!
Nach Fehlern anderer suchend, schrie ich sie hinaus und pöbelte alles an, was mir zu normal erschien. Meine zahlreichen Aversionen drückte ich anhand der vielen Buttons und Aufnäher aus, die ich stets auf meiner Kleidung präsentierte, welche ich von nun an nur noch in kleinen Eckgeschäften kaufte. Diese waren zwar teurer und es gab weniger Auswahl, jedoch machte ich deutlich, dass ich gegen die gigantischen Einkaufsparadiese war. Ich trank widerlichen Kaffee im heruntergekommenen Gassencafé und boykottierte damit die Großketten der Kaffeelandschaft; kaufte Bioprodukte aus fernen Ländern und buntbedruckte T-Shirts aus Sri Lanka, weil die sonst niemand trug. Bands die niemand kannte, weil sie einfach nur schlecht waren, erklärte ich zu meiner Lieblingsmusik und fühlte mich dabei unsagbar cool. Über mein Erscheinungsbild stellte ich deutlich dar, welche politische Meinung ich vertreten wollte, obgleich ich eigentlich gegen Politik, gegen den Staat und gegen die gesamte Welt war, die sich gegen mich verschworen hatte. Ich traf auf Gleichgesinnte, die genauso viel Toleranz an den Tag legten und dadurch ebenso viel Stil besaßen, wie ich. Es fanden zahlreiche unsinnige Diskussionen statt, über Themen, die niemals ein reflektiertes Ende hervorbrachten. Dabei war ich doch grundsätzlich gegen Gruppendynamik, gegen Randgruppen, gegen Alleinsein, gegen mich selbst. Also grenzte ich mich auch von denen ab, die mir lieb geworden waren, verlor Freunde, Perspektiven, Motivation und ein Stück mehr von dem, was ich einst war.
Ich quälte mich allein in die unbequemen Klappsessel des lokalen Dorfkinos, aß altes, pappiges Popcorn und störte mich nicht an der veralteten Technik, welche die noch viel älteren Filme auf die Leinwand warf, während alle anderen das hochmoderne Cineplex besuchten. Mitreden zu können empfand ich als Niederlage gegen das Anderssein. Wer will schon Mainstream sein, wenn er besonders sein kann? Besonders waren auch die Sorgen, die sich die Familie plötzlich machte. Aufmerksamkeit, die so ungewohnt war, dass ich darin zerfloss und mich dennoch mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Ich wollte standhaft bleiben und weiterhin dagegen sein. Dagegen mich selbst erklären zu müssen, gegen Fleisch, gegen die Farbe Rosa, gegen Schönheitsideale, das Schulsystem, das Studium, Arbeit und gegen Demonstrationen die sich FÜR etwas aussprachen. Als könne man Gruppendynamik nutzen, um etwas Positives zu bewirken. Hoffnungslos.
Die vergangene Grabschaufelei entwickelte sich zu einzelnen Schlaglöchern, die nie tief genug waren, um nach dem harten Aufprall im Erdboden zu versinken. Also versuchte ich es mit Alkohol, tauchte in die Welt der Drogen, hatte Sex in diversen Stellungen, mit unterschiedlichsten Menschen an absurdesten Orten. Doch mit der Zeit und Routine, verlor alles seinen Reiz. Es brachte mir niemals die ersehnte Liebe, dafür aber Verletzungen, die mich abstumpfen ließen. So sehr, dass ich mich selbst nicht mehr spüren konnte. Wenn ich die Nahrung verweigerte, hörte ich das Magenknurren, ohne es zu spüren. Schnitt ich mir in die weiße Haut, sah ich das Blut in zarten Linien fließen, spürte jedoch nichts. In mir herrschte ein Ungleichgewicht, das ich nicht ausbalancieren konnte. Zwei Gläser in meiner Mitte, von denen ich eines immer zuerst einschenkte und dabei viel zu spät merkte, dass nichts mehr für das andere Glas übrig war. Auch von Freundschaften war nichts mehr übrig geblieben, nachdem ich von Diagnosen, die am Küchentisch ausgesprochen wurden, nichts mehr hören wollte. Ich wollte keine Hilfe, war gegen die gesamte Menschheit und hasste mein Spiegelbild. Während meines Krieges, kämpfte ich am stärksten gegen mich selbst. Denn schließlich war ich ungenügend.
