Ich hatte schon viele Ärsche auf mir sitzen

Alt, gebrechlich, abgenutzt und längst nicht mehr schön – so fühlt es sich an, ein Stuhl zu sein.

Mein Name ist Marcel – benannt nach meinem „Schöpfer“. Ich bin 56 Jahre alt und aus Robinienholz gemacht. Ja, ich bin ein Stuhl! Früher war ich ein sehr lebensfrohes und ansehnliches, massives und wertvolles Möbelstück.

In meinem Leben habe ich schon viele schöne Dinge gesehen und erlebt. Ich wurde geschätzt, verschenkt, weiterverkauft, geschmirgelt, neu lackiert, mit Polstern gekleidet, in Stuhlkreise integriert, zurechtgerückt. Ich war schon in vielen Häusern und Wohnungen zu Hause, stand so manches Mal in einem schönen Garten, wurde aber auch schon mal in einem Keller untergestellt. Kinder freuten sich, wenn sie mich bei „Reise-nach-Jerusalem“ rechtzeitig ergattern konnten, Katzen wärmten meine Sitzfläche mit ihrem geschmeidigen Fell, Menschen nahmen gerne auf mir Platz und verweilten lange, da ich so bequem bin.

Im Laufe der Jahre habe ich als stiller Beobachter vieles von den Menschen gelernt. So verstehe ich nun vier Sprachen, weiß vieles über Themen wie Politik, Religion, Gesellschaft, Familie, Freundschaft, Literatur, Film, Kunst, Urlaub, oder verschiedene Berufe. Das waren oftmals Dinge, die ich gar nicht freiwillig hören wollte, mich jedoch weitergebildet haben. Zudem kann ich verschiedene Gerüche zuordnen und weiß zum Beispiel ungefähr, was Du heute gegessen hast, wenn Du dich auf mich setzt. Ich habe derweilen auch eine recht realistische Gewichtseinschätzung und merke sofort, wenn Du zugenommen hast. Mein neuestes Hobby ist es, herauszufinden welchen Stoff Du trägst. An guten Tagen kann ich sogar die Designermarke erraten.

Warum ich solche Hobbys entwickle? Früher habe ich in Gedanken mit einem meiner Besitzer und seinem besten Freund jahrelang Schach gespielt. Ich konnte mich mit antiken Möbeln in meiner Umgebung austauschen und auch von ihnen vieles lernen. Ich habe die Kreuzworträtsel einer alten Dame gedanklich gelöst, wenn sie die Fragen vor sich her gesagt hat. Ich habe die Menschen und ihre Eigenheiten studiert, war aufmerksam, wenn sie miteinander sprachen und analysierte Konfliktsituationen. Partei ergriff ich natürlich immer für meinen Besitzer, da ich ein treuer Stuhl war. Ich war also stets gefordert und beschäftigt. Bis jetzt!

Nun bin ich bei dir gelandet, da Du als möchtegern-alternatives, pubertierendes Pickelmädchen auf einem Flohmarkt die Summe deines Monatstaschengeldes ausgegeben hast um mich zu erstehen. Da Du so stolz auf dein neues Möbelstück warst, musstest Du mich natürlich erst meines Lackes entledigen, unprofessionell an mir rumschmirgeln um mich dann mit Servietten(!) einzukleiden. Serviettentechnik scheint ja wirklich „in“ zu sein, denn einige deiner anderen Möbel hast Du auch schon auf diese Art verunstaltet. Und in welcher Farbe hast Du mich bevorzugt? Natürlich- pink!!! Pinke Blümchen und florale Muster zwischen kleinen Sternchen und Herzchen. An dieser Stelle wäre ich dankbar über die Fähigkeit, einfach mal kotzen zu können.

Aber das ist noch nicht alles! Du stellst mich in dein stickiges Jugendzimmer, um deine nach künstlichen Blumen stinkenden Klamotten (bevorzugt geblümt in Bonbon- und Pastelltönen) auf mir abzulegen und meine einzigen möglichen Gesprächspartner sind einfältige, ungebildete IKEA-Möbel namens Sören, Björn und Billy, die noch nicht mal ihre Heimatsprache sprechen. Dir darf ich dafür täglich gefühlte zweitausend Mal dabei zuhören, wie Du ein- und dasselbe Lied mit quietschender Stimme in gebrochenem Englisch mitgröhlst. Falls Du tatsächlich mal die Klappe hältst, bist Du damit beschäftigt zu weinen. Du schreibst hunderte Gedichte und Kurzgeschichten, die alle von Liebeskummer und unerfüllten Mädchenträumen erzählen, was sowieso niemand lesen will! Dein bester Freund ist ein weißer Stoffhase, den Du zärtlich „Schnuffel“ getauft hast. Er begleitet dich seit deiner Geburt durch die, deiner Meinung nach, so schreckliche Welt und bekommt alles Leid, das dir widerfährt, auch prompt erzählt.

Ich kann das alles nicht mehr hören! Aus dem attraktiven, gut gebauten, starken Stuhl wurde ein gebrechlicher, alter, hässlicher, depressiver, pinkfarbener Haufen Holz! Wer würde sich da nicht das Leben nehmen? Daher möchte ich, dass Du das hier als Abschiedsbrief ansiehst. Denn ich glaube nicht, dass ich es überleben werde, wenn ich uns (ja, dir und mir!) nun „versehentlich“ die Beine breche, während Du gerade auf mir stehst, um deine neue Papierdeckenbeleuchtung (natürlich von IKEA) zurecht zu zupfen.

Irgendwann werden sich alle Möbel an dir rächen, ich mache nur den Anfang!

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Ein Kommentar

  1. Niemand muss sich ungelesen fühlen, ich bin hier um jede Resonanzgeilheit zu befriedigen. Zum Artikel.

    Marcel, das vierbeinige Stuhlschwein ist aus hartem Holz geschnitzt. Miss Pinky wird sich heute noch die Beine brechen, ausgelöst durch die Selbstaufgabe eines alten Sitzmöbels, dass die eigene Verbannung auf den Spermüll gerne in Kauf nimmt, um Rache an der geistlosen Jugend zu nehmen.

    Wer sowas schreiben kann, endet irgendwann im Guantanamo der Geisteskranken, all seiner Rechte beraubt und vor allem ohne gefährliches Schreibwerkzeug. Deshalb möchte ich die Zeit nutzen nyx zu danken, solange sie noch unbehelligt unter den Normalen und Anständigen wandelt und diesen Dank vernehmen kann. Vielen Dank, nyx! Schreib soviel du kannst, denn bald wirst du weggesperrt. Vielleicht in ein gefliestes Badezimmer. Dann kannst du immerhin deinem liebsten Hobby nachgehen: Ohnmachtsanfälle und das Wälzen in Schmierschiss.

    Bis dahin wünsche ich mir weitere abstrakte Erkenntnisse aus einer Welt, die sich mir aus entwicklungstechnischen Aspekten sonst gar nicht erschliessen könnte: Der Welt der Fischi Fischi Fischis.

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