Auch ich habe eine Geschichte zu erzählen

Ich haste die Treppe der U-Bahn an zahlreichen Menschen vorbei nach oben. Der Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich es nicht pünktlich schaffen werde. Soll ich lieber gleich wieder umkehren? Nein, schon die letzten Wochen hab ich immer wieder eine Ausrede gefunden, um vor der Tür wieder umzudrehen. Die Adresse hatte ich durch eine Anzeige in der Wochenzeitung entdeckt. Nun stehe ich wieder vor der dunkelbraunen massiven Tür mit Messingtürgriff. Ein letztes Mal atme ich tief durch, blicke noch einmal prüfend an mir hinab und klopfe an. Nervös und schüchtern betrete ich den abgedunkelten Raum und werde von freundlichen Gesichtern gemustert. Mit einer schwungvollen Geste werde ich auf den freien Platz in der Stuhlkreisrunde hingewiesen. Ich nehme zögerlich Platz und warte ab, was passiert.

Ein älterer, blasser Herr, der links von mir die Beine übereinander geschlagen hat, ergreift das Wort nach einer kurzen Begrüßungsgeste in meine Richtung. Er erzählt eine ausschweifende Geschichte über seinen Ursprung, über den Krieg, den er miterleben musste und fasst seine Eindrücke der damaligen Zeit, für alle sehr ergreifend zusammen. Nach einem Augenblick der andächtigen Stille, beginnt seine linke Sitznachbarin, ihre Geschichte zu erzählen. Sie handelt von einem Kaiserschnitt, von Ärzten und Schmerzen. Viel bekomme ich davon nicht mit, da ich, innerlich noch etwas aufgeregt, in andere Gedanken abschweife.

Wenn die Reihenfolge so bestehen bleibt, bin ich mit meiner Vorstellung zuletzt dran, worüber ich wirklich froh wäre. Ich war zuvor noch nie bei einem solchen Treffen. Das Wort Selbsthilfegruppe war für mich immer negativ behaftet. Ich dachte an psychische Störungen, Fetische, Krankheiten und selbstzweifelnde schwache Personen, die sich am Unheil anderer ergötzen. Aber wenn ich die Gesprächsrunde nun beobachte, sehe ich starke Persönlichkeiten, die alle eine Geschichte zu erzählen haben. Sie hören einander aufmerksam und respektvoll zu und geben Rat und Antwort, wenn diese vom Erzähler gewünscht sind.

Ich mustere die mitfühlenden und interessierten Gesichter, versuche sie besser kennen zu lernen. Manchen von ihnen sieht man direkt an, warum sie hier sind und was sie zu erzählen haben. Bei anderen bin ich sehr gespannt. Nach den einzelnen Vorträgen wird nicht geklatscht, nur der Kriegsveteran bedankt sich als Wortführer für die Offenheit bei jedem Einzelnen.

Die nächste Geschichte wird von Karin erzählt, die sich drei Stühle neben mir, mit einem schiefen, aber sehr sympathischen Lächeln vorstellt. Sie wirkt unsicher und nervös, als sie nach den richtigen Worten sucht. Ich höre ihr aufmerksam zu, als sich ein allgemeines Gefühl des Unbehagens breit macht. Es fallen Worte wie „Vergewaltigung“, „Alkoholabhängigkeit“, „Prügel“ und „Messerstiche“. Ohne es beeinflussen zu können, kullern mir dicke Tränen des Mitgefühls die Wangen hinab. Sie ist so jung und hat so viel Leid erfahren. Ich spüre wie ich innerlich unweigerlich ein kleines Stück aufreiße.
Im Anschluss wird eine kleine Pause gemacht. Die Geschichte hat alle sehr bewegt und Karin ist froh, ihre Geschichte endlich erzählt zu haben.

Als sich alle soweit wieder gesammelt haben, ist Gustav an der Reihe. Er gehörte zu denjenigen, denen man abends nur ungern alleine begegnet. Seine Stimme jedoch wirkt bei weitem nicht so stark, wie sein Auftreten. Beinahe flüsternd erzählt er, dass er gehasst wird, dass er gegen seinen Willen tätowiert und ihm mehrmals die Messerklinge angedroht wurde.
Anschließend ist nur noch Veronica vor mir an der Reihe, die sich fast schon dafür entschuldigt, dass sie eine sehr viel weniger spektakuläre Geschichte zu erzählen hat. Sie spricht von einem Hundebiss und davon, dass sie seither Angst vor Hunden habe. Zudem sei sie an der selben Stelle hingefallen und habe sich an einem Stein aufgeschlagen. Aber sie wird gemocht, weil sie so ungewöhnlich aussieht.

Als sie mit ihrer Erzählung fertig ist, sehen mich alle erwartungsvoll an. Ich beginne zögerlich zu hinterfragen, ob ich überhaupt in diese Runde passe. Ich habe zwar auch eine schmerzvolle Geschichte zu erzählen und bin eigentlich wie alle anderen Anwesenden, aber mich kann man nicht einfach übertätowieren oder per Lasertechnik entfernen. Selbst mit den größten Bemühungen, wird es beinahe unmöglich, mich zu vergessen oder so lieben zu lernen, wie zum Beispiel meine Vorrednerin Veronica. Ich bin nicht schön, sondern nur schmerzhaft. Bei jeder leidlichen Erfahrung reiße ich wieder auf und erinnere an den Schmerz der vergangenen Jahre. Ich werde verdrängt und von Außenstehenden oft nicht ernst genommen. Ich bin der Spiegel aller negativen Erfahrungen und nehme alles Leid in mich auf. Ich bringe meinen Träger regelmäßig zum weinen und brenne mich immer tiefer ein, je mehr Schmerz er erfahren muss.
Ich bin die Narbe am Herzen. Wie jede andere Narbe, habe auch ich eine Geschichte zu erzählen.

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5 Kommentare

  1. Wer so einfühlsam berichten kann ist sensibel, kann hinhören und denkt mit großer geistiger Trennschärfe. Die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können ist ein Auslaufmodell – Leider!
    Du scheinst stark zu sein! Ich habe keinerlei Bedenken dass du dein weiteres Leben, trotz aller vergangener Schwierigkeiten nicht bestens hinkriegen würdest.
    Die Vergangenheit ist ein Part von dir und hat deinen Charakter gewürzt.
    Geh weiter unerschütterlich deinen Weg und erkenne vielleicht später, wenn alles vergessen ist, dass all das ein nötiges Steinchen war im Mosaik deiner Existenz, im unvereitelbaren Werdungsprozess.

  2. Danke für die netten Worte Gruftputze, aber ich glaube ich muss dich auffordern, den Text noch einmal zu lesen. Dieses Mal mit dem Hintergrund, dass er sich um eine Selbsthilfegruppe der Narben dreht. Der Erzähler ist, wie im letzten Absatz deutlich gemacht wird, die Narbe am Herzen. Die Rede ist nicht von realen Personen und somit ist es auch nicht meine Geschichte.

    Ich hatte gehofft, dass dies auch beim Leser so verstanden wird.

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