Menschenfleisch

Mein Kopf liegt schwer in meinem aufgestützten Händen. Lustlos schaue ich mich um. Wo bleibt nur die Bedienung? Minuten werden zu Ewigkeiten und Ewigkeiten scheint auch die Reinigung der Tischdecke her zu sein. Meine Augen wandern über eingetrocknete Flecken in der geografischen Anordung der Antillen und finden letztlich ein lohnenswertes Ziel der Ablenkung am Nachbartisch.

Hier sitzt ein Pärchen, das sich nicht mag. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ihrer beschädigten Packung gegenseitigen Respekts ist längst abgelaufen. Kein gutes Vorzeichen für ordentliches Benehmen, aber ein untrüglicher Garant für erstklassige Unterhaltung.

Sie isst Fleisch, er isst Fleisch. Gelbe Zähnen nagen an Hühnerknochen, Zungen lecken versprengte Soßenreste aus faltigen Mundwinkeln. Seine misstrauischen Blicke wandern über ihre emsigen Hände auf die potentielle zweite Portion Nahrung. Der Kampf ums nackte Überleben liegt schwer in der Luft, wie der Gestank von Pisse in Männertoiletten. Die Sicherung der eigenen Existenz löscht jeglichen Gedanken an zivilen Anstand, gerade wenn es ums Essen geht. Ein kleiner Funke nur würde ausreichen, um sie zu töten und ihr Essen zu stehlen. Er leckt den Knochen ab, bricht ihn mit den Zähnen auf und saugt das Mark heraus. Ein ausgehungerter Pitbull frisst ähnlich. Er fixiert sie mit seinem tollwütigen Blick und was er zu sehen bekommt, missfällt ihm. Sie speichelt in das an den Tellerrand geschobene Gemüse. Ein Zucchinistreifen ohne Existenzberechtigung haucht seine letzte Instanz von Essbarkeit in die fettgesättigte Atmosphäre des American Diner. Das einsame Schicksal der gesunden Kost ist besiegelt, denn nur den Hühnerbeinen wird der Verdauungsprozess gemacht. Zäh klebt die Marinade an den Geflügelstücken. Lange Fäden dunkelroter Soße flüchten mithilfe der Erdanziehungskraft vor der unersättlichen Körperöffnung des femalen Carnivoren. Sie habe keine Chance. Nie eine gehabt.

Währenddessen bekommt sich ein anderes Pärchen am Nebentisch in die Haare, er schaut kurz hinüber, will sehen ob Blut spritzt oder wenigstens Titten oder irgendwas, Hauptsache die alte Vettel verschwindet aus seinem Blickfeld. Dieser Moment der Ablenkung wird seine Niederlage: Blitzschnell greift sie nach einem seiner letzten Fleischstücke und zwingt es mit einem einzigen Schluck hinunter. Aus dem Augenwinkel bemerkt er seinen fatalen Fehler, knurrend wendet er sich seinen Nahrungsresten zu. Seine blutunterlaufenen Augen töten sie mit Blicken, seine Gedanken baden in Zerstückelungsfantasien. Aber: Er wird alt. Das Alphatier muss bald abtreten. Und die Vettel grinst nur breit. Eine Fleischfaser hängt zwischen ihren Vorderzähnen, schwingt und winkt wie Käpt’n Ahab auf Moby Dicks Rücken einen letzten spöttischen Gruß: Ich hab dich gefickt du alter Penner; schau nochmal weg und ich fick dich wieder. Sie grunzt zufrieden, kippt sich die Diet Coke in einem Zug in den Schlund und lehnt sich siegesgewiss in den ächzenden Stuhl. Er bezahlt. Ich gehe.

Bild „Overcrowded“ von
© h. c. s. 08/2010

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