Wie so häufig in den letzten anderthalb Jahren, stehen Marie und Lukas morgens vor ihren Autos auf dem Parkplatz und verabschieden sich mit einem zärtlichen Kuss voneinander. Während er nach links in Richtung Arbeit abbiegt, fährt sie zu sich nach Hause um zu duschen und sich umzuziehen, bevor sie sich dann auf den Weg zur Uni macht.
Nicht so an diesem Tag. Kurz nachdem sie das Radio angestellt und den Blinker gesetzt hatte, entdeckt sie im fahlen Licht des Sonnenaufgangs ein rotes Auto im Rückspiegel, das ihr immer dichter auffährt. Durch die geringe Distanz, sieht sie eine weibliche Gestalt mit blondem Haar, die sie mit wütenden Augen anfunkelt.
Marie denkt sich nichts weiter dabei und fährt rechts ran, um die augenscheinlich eilige Person hinter sich vorbei zu lassen. Doch diese weicht auch dann nicht von ihrer Spur direkt hinter Marie ab und drängt sich immer weiter auf. Mit einem mulmigen Gefühl steuert Marie nun doch lieber stadtauswärts, statt die Dränglerin direkt zu ihr nach Hause zu führen.
Geschätzte dreißig Minuten und zwanzig Kilometer später, greift Marie nun panisch und angsterfüllt nach ihrem Handy, um ihren Freund anzurufen, der nun schon längst bei der Arbeit sein müsste. Lukas versucht sie durch den Hörer zu beruhigen und versichert ihr, die Verfolgerin nicht zu kennen. Nachdem sie wenige Minuten später auflegen, ist das rote Fahrzeug plötzlich aus Maries Sichtfeld verschwunden. Sie muss abgebogen sein.
Erleichtert fährt Marie auf den nächsten Parkplatz und beugt sich mit den zitternden Händen und ihrem kaltschweißigen Gesicht über das Lenkrad. Sie muss sich konzentrieren, wieder langsam und regelmäßig zu atmen. Sie kann die Situation nicht einordnen und versteht nicht, was die fremde Person von ihr gewollt haben konnte, warum sie ihr eine solche Angst einjagt. Sie reißt sich zusammen und verdrängt die wirren Gedanken aus ihrem Kopf, um den Tag so normal wie möglich fortzuführen.
Zu Hause angekommen, begegnet ihr eine ihrer neuen Mitbewohnerinnen fröhlich auf dem Flur. Bei einer gemeinsamen Tasse heißem Tee, erzählt Marie, was ihr widerfahren ist. Ihre Mitbewohnerin zeigt wenig Interesse und tut den Vorfall als seltsamen Zufall ab, es würde sich vielleicht auch um eine Verwechslung handeln. Stattdessen erzählt sie Marie von ihrer neuen männlichen Errungenschaft, in die sie neuerdings verliebt sei aber noch nicht so recht wisse, woran sie bei ihm sei, da sie sich meist nur vormittags trafen. Marie hört ihr nur mit einem halben Ohr zu und verabschiedet sich dann genervt von so viel Egoismus unter die Dusche.
Einige Tage später, als sie den Vorfall schon fast vergessen hatte, traf sie sich mit Lukas in der Stadt, um ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter zu besorgen, die Marie noch immer nicht kennen gelernt hatte. Seine Familie wohnt zu weit weg, um einen spontanen Wochenendbesuch abzuhalten und sein Kontakt zu ihnen scheint auch nicht sehr eng zu sein.
Händchenhaltend schlendern sie von Geschäft zu Geschäft, um das perfekte Geschenk zu finden. Doch in der nächsten Sekunde bleibt Marie wie erstarrt stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennt sie das selbe rote Auto, das ihr noch Tage zuvor kalten Schweiß über den Körper trieb, doch weit und breit ist keine Blondine zu sehen.
Während Marie innerlich immer unruhiger wird, läuft Lukas, der sich von ihrer Hand gelöst hatte, mit gesenktem Blick und schnellen Schritten stur geradeaus, ohne Marie zu beachten. Misstrauisch beäugt sie sein merkwürdiges Verhalten und die Situation, die sich zusammengetragen hatte, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Er hatte den Vorfall mit der Verfolgung durch die Stadt genauso abgetan, wie ihre Mitbewohnerin und wirkte dabei sogar leicht wütend, sodass sie schon begann, an sich selbst zu zweifeln.
Einige Minuten später, bittet Lukas darum, den Stadtbummel auf ein andermal zu verschieben. Er wäre erschöpft und möchte nun lieber gemütlich etwas essen gehen. Bei ihrem Lieblingsitaliener angekommen, ist die Stimmung zwischen den beiden weiterhin angespannt und Marie traut sich nicht, anzusprechen was sie gesehen hatte. Nach dem recht stillen Essen, verabschieden sie sich mit einem flüchtigen Kuss voneinander. Sie würden sich morgen oder übermorgen wieder sehen.
Auf dem Weg zu ihrem Auto, überkommt sie wieder ein seltsames Gefühl und sieht sich unauffällig um. Da ist es wieder – das rote Auto. Ihre Schritte werden schneller, sie drückt ihre Tasche enger an den Körper und versucht gleichmäßig durch Mund und Nase zu atmen. Als sie nur noch zwei Straßen von ihrem Auto entfernt ist, wird sie von einem Lichtkegel erfasst, der von dem Auto ausgeht, das hinter ihr die Straße hinab rollt. Sie muss sich gar nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter dem Streuer sitzt. Als sie gerade um die letzte Ecke abbiegen will, hört sie das Quietschen der Reifen und spürt einen Stoß, der sie zu Boden fallen lässt. Der Inhalt ihrer Tasche liegt vor ihr auf dem Asphalt verteilt und als sie aufblickt, ist das Auto schon längst verschwunden. Ängstlich und sauer zugleicht, sammelt sie ihre Sachen auf und rennt mit einem leicht aufgeschürftem Knie zu ihrem Auto.
„Eine neue Nachricht!“, ertönt es vor ihr. Die E-Mail ist von Lukas, nachdem er sich drei Tage lang nicht gemeldet und weder auf Anrufe, noch auf SMS oder E-Mails reagiert hatte. In ihren Augen steigen Tränen der Wut auf, als sie die Zeilen liest, die ihr vermitteln, dass sie sich zukünftig nicht mehr sehen können. Einen Grund dafür schreibt er nicht. Auf den wiederholten Versuch, bei ihm anzurufen, fiept ihr nur das Besetztzeichen entgegen. Aufgewühlt tigert sie durch die Wohnung auf der Suche nach einem Gesprächspartner, bei dem sie sich ausheulen kann, doch die eine Mitbewohnerin telefoniert gerade und die andere ist nicht zu Hause. Marie fühlt sich furchtbar einsam, als kurz darauf an die Wohnungstür geklopft wird. Sie schreckt auf und versucht durch den Türspion zu erkennen, wer es sein mag. Zu sehen ist nur Dunkelheit. Sie späht durch einen Türspalt und sieht einen Brief auf dem Boden liegen, doch vom Absender ist keine Spur.
Zu lesen ist nur eine Zeile in Arial, Schriftgröße 14: „Dienstag um 15 Uhr im Café Adria.“
Dienstag ist schon morgen und sie glaubt, Lukas zu einem klärenden Gespräch zu treffen.
Wütend und doch aufgeregt betritt sie pünktlich das Café, doch können ihre Augen Lukas nicht ausfindig machen. Stattdessen sieht sie unter den wenigen Gästen ein kleines blondes Mädchen, das mit einer Frau spricht, von der Marie nur den Rücken und eine Strickmütze zu sehen bekommt. Das Mädchen kommt ihr bekannt vor, doch weiß sie nicht woher. Als sie an diesem Tisch vorbei geht, um auch im hinteren Bereich des Cafés nachzusehen, wird sie am Arm festgehalten. Erschrocken dreht sich Marie um und blickt in das Gesicht ihrer Verfolgerin. Diese drückt Marie mit den Worten „Setzen sie sich!“, auf den letzten freien Stuhl an ihrem Tisch, zwischen Mutter und Tochter.
„Mein Name ist Karin und das ist Lisa. Entschuldigen sie, was ich getan habe, aber ich war so sauer! Ich hoffe ich habe ihnen nicht ernsthaft wehgetan.“ Verwirrt versucht Marie die Situation zu verstehen. „Sauer worüber?“ – „Hat ihnen Lukas denn nicht von uns erzählt?“ Kopfschüttelnd schwillt der Kloß in Maries Hals an. „Ich bin seine Ehefrau und das ist seine fünfjährige Tochter.“ Ungläubig sieht Marie in das lächelnde Gesicht des kleinen Blondschopfes und kann die dicken Tränen nicht aufhalten, die aus ihren Augen kullern. „Tja und wie es aussieht, sind sie eine seiner Geliebten.“ Nach einem kurzen Moment der Fassung, erwidert sie: „Eine seiner Geliebten?“ – „Ja, ich bin mir sicher, dass sie nicht die Einzige sind. Ich habe viel Zeit damit verbracht, herauszufinden, wo sich mein Mann aufhält, wenn er weder auf der Arbeit, noch bei uns zu Hause ist. Da bin ich eben auch auf ihre Wohnung gestoßen, als ich ihn beschattet hatte. Ich hätte nur nicht vermutet, dass sie ahnungslos sind.“ – „Moment mal, wie können sie denn auf meine Wohnung gestoßen sein? Er war noch nie bei mir zu Hause!“ – „Dafür hab ich ihn aber häufig vormittags in das Haus spazieren sehen, in dem sie wohnen.“
