Geöffnete Türen (Teil III.)

Woran kann man sich festhalten, wenn nichts mehr bleibt?

Mit tropfnassen Haaren tapse ich barfuss über die Badfliesen bis hin zum Türrahmen. Ich atme tief durch und halte einen Moment inne, um zu horchen, ob ich ein Geräusch vernehmen kann und Mut zu sammeln, bevor ich mich in der Wohnung umsehe. Es ist mucksmäuschenstill, sodass ich meine Halsschlagader pumpen höre. Ich stehe angespannt im Flur, sehe nichts wovor ich Angst haben müsste. Dann durchfährt es mich. Jemand klopft an die Wohnungstür. Nachdem ich meine Schockstarre überwunden habe, verfluche ich die alten Türen, die keinen Spion haben, öffne einen kleinen Spalt und setze mit dem Fuß eine Sperre.

John, der Nachbar, lächelt mich milde an und deutet auf seine Werkzeugkiste. Ich bin dankbar, dass er diesmal die Wohnungstür, statt den Durchgang im Wohnzimmer gewählt hat. Er wolle nach den Stromleitungen sehen, die wohl einen Wackelkontakt haben müssen. Anders kann er sich meine Schilderung der flackernden Lichter nicht erklären. Nachdem ich ihn hereinbitte, fällt die Tür erst unter massivem Gegendruck ins Schloss. Ich überlege, ob es unverschämt wäre, ihn zu fragen, ob er sich auch die Türen der Wohnung ansehen könne, als er von sich aus kommentiert, dass sich die Türen gelegentlich verziehen und man sie dann etwas anheben müsse. Es sei eben ein altes Gemäuer. Dieses Argument hörte ich in den vergangen Tagen schon häufiger.

Während er herumwerkelt und den Sicherungskasten inspiziert, leiste ich ihm Gesellschaft. Weniger aus Sympathie denn aus Misstrauen. Er stellt viele Fragen und erzählt nur wenig von sich, antwortet einsilbig sobald ich mich interessiert zeige. Ich bin froh und erleichtert, als ich endlich höre, wie sich der Schlüssel im Türschloss dreht und Hannes nach Hause kommt. Nach einem flüchtigen Kuss auf meine Stirn, wendet er sich von mir ab und John zu. Die beiden verstehen sich gut und philosophieren über die veralteten technischen Anlagen des Gebäudes, sodass ich mich überflüssig fühle.

Ich räume die restlichen Umzugskartons aus und sortiere die Dinge, die selten Gebrauch finden. Zum wiederholten Male schüttle ich den Kopf über mich selbst, fühlt es sich erneut so an, als hätte sich die Wohnung ohne mein Zutun verändert. Ich bin mir unsicher, wie ich zur Abstellkammer gelange. Am logischsten erscheint mir die Tür direkt neben der Küchenzeile. Vollbepackt drücke ich mit dem Ellenbogen umständlich die Klinke nach unten und schiebe die Tür schwungvoll mit dem Fuß auf. Ebenso schwungvoll lasse ich dann auch alle Gegenstände fallen, die ich sorgfältig auf meine Arme getürmt hatte, als ich die dicke Frau im geblümten Nachthemd erblicke, welche die zwei Quadratmeter der Abstellkammer beinahe restlos ausfüllt und den Kopf in regelmäßigen Abständen gegen die Wand schlägt. Weder das Klirren der Vase, die zu Bruch ging, noch mein erschrockener Aufschrei, reißen sie aus dieser Art Trance. Wenige Sekunden später stehen Hannes und John neben mir, genauso wie ich selbst.

Während Hannes mich ins Wohnzimmer bugsiert und auf die Couch drückt, führt John die dicke Frau durch eine der Türen, vermutlich in ihre Räumlichkeiten zurück. Konsterniert höre ich ihn noch mit ruhiger, fast abgedämpfter Stimme auf sie einreden, derweil sie nur schweigend auf den Boden starrt. Sie jagt mir Angst ein. Auch Johns Stimme jagt mir Angst ein. Hannes steht mit hängenden Schultern vor mir. Ich höre zwar die Worte, die er zu mir spricht, kann sie aber nicht verstehen. Erst als die Frau unsere Wohnung verlassen hat, holen mich die unruhigen Tritte gegen die Bauchdecke wieder zurück. Das Licht flackert wiederholt kurz auf, was Hannes nicht zu beirren scheint. Er reicht mir, ohne jeglichen Blickkontakt, ein Glas Leitungswasser und legt mir eine Wolldecke über die Beine. Ich solle mich ausruhen. Er verlässt den Raum und ich fühle mich alleingelassen und schuldig, als wäre ich verantwortlich für die vielen seltsamen Vorkommnisse.

Die Hiebe unter dem Herz lassen nach, und doch fühle ich mich noch immer aufgewühlt. Keine Spur von Ruhe. Ich stehe auf, sehne mich nach der Geborgenheit, die ich sonst von meinem Mann gewohnt war. Auf meiner Suche bleibe ich ratlos mitten im Flur stehen. Alle Türen um mich herum sind weit geöffnet. Mein Versuch, die Wohnungstür zu schließen, scheitert mangels nötiger Kraft und selbst Johns Tipp des Anhebens, zeigt keinerlei Wirkung. Ich stelle einen schweren Holzstuhl vor eine der angrenzenden Durchgangstüren. Für einen Moment bleibt die Tür durch das Gewicht geschlossen, dann schiebt sie wie von Geisterhand den Stuhl beiseite und sich selbst auf. Verzweifelt rufe ich nach Hannes. Keine Reaktion. Allgemein ist kein Geräusch zu vernehmen. Als ich ins Treppenhaus blicke, sehe ich auch dort alle Türen offen stehen. Ich bekomme immer schwerer Luft und mein Puls beginnt zu beschleunigen. Als dürfe ich die Stille nicht durchbrechen, versuche ich automatisch möglichst lautlos durch die Wohnung zu schleichen. Wieder flackert das Licht, doch diesmal anhaltend. Auch das Baby meldet sich erneut unruhig und versetzt mir ein paar schmerzhafte Tritte, die mich teils nach Luft schnappen lassen.

Schon im Türrahmen des Badezimmers stehend, sehe ich, dass jemand in der Wanne liegt, kann jedoch die Person nicht erkennen und frage nach. Erst als ich mich selbst höre, bemerke ich das Zittern meiner Stimme. Das Licht flackert weiterhin, wie in den gruseligen Szenen eines Horrorfilmes. Ich fühle mich, als wäre ich die Hauptdarstellerin und muss beinahe über diesen absurden Gedanken schmunzeln.
Als ich einen Schritt näher trete, spüre ich die nassen Fliesen unter meinen Fußsohlen und muss mich konzentrieren, nicht auszurutschen. Nach einem weiteren unsicheren Schritt, kann ich Hannes erkennen. Er ist unter Wasser und hat entspannt die Augen geschlossen. Erleichtert setze ich mich an den Wannenrand, warte bis er wieder auftaucht. Als er dies auch nach mehreren Sekunden, die mir nun wie eine Ewigkeit vorkommen, nicht tut, streife ich meinen Ärmel zurück und greife in das lauwarme Nass. Er reißt die Augen weit auf und starrt mich durch das Wasser hindurch an. Ich scheine ihn mit meiner Berührung erschreckt zu haben und weiß nicht, ob ich froh, oder schockiert sein soll. Er taucht weiterhin nicht auf. Stattdessen bemerke ich erst jetzt, dass er atmet. Unter Wasser. Ohne Luftbläschen zu bilden. Jetzt spricht er sogar zu mir. Mit dumpfem Klang. Ich verstehe ihn nicht. Verstehe gar nichts.

Während ich ihn einfach nur anstarre, sehe ich, wie das Leben aus ihm weicht und er immer blasser wird, langsamer atmet und er mit nachlassendem Muskeltonus auf den Grund der Badewanne sinkt. Ich will ihn rausziehen. Er ist zu schwer. Ich zerre an ihm und schreie ihn unbeherrscht an, er solle sofort aufwachen, aufstehen und endlich wieder der Mann sein, den ich geheiratet habe. Alles um mich herum wirkt so unwirklich. Ich kann die Tränen nicht halten, die nur so aus mir heraussprudeln. Ich ziehe den Badewannenstöpsel, rüttle und schlage seinen leblosen Körper. Dann sinke ich kraftlos auf den Boden.

Aus den benachbarten Wohnungen tönen Geräusche. Ich höre Gemurmel und das Knarren der Dielen. Gleichmäßige, aber langsame Schritte mehrerer Personen nähern sich. Das Licht flackert nach wie vor. Panik steigt in mir auf. Ich schnappe meine gepackte Tasche und laufe so schnell ich kann aus der Wohnung. Im Treppenhaus sehe ich, wie sie aus ihren Wohnungen kommen und mir mechanisch hinterher blicken, ohne sich großartig zu bewegen. Auch Thomas, der frühere Kumpel meines Mannes, sieht mich mit leeren Augen an, als ich ihm einen flehenden Blick zuwerfe. Ich stürme die Treppen hinab nach draußen.

Die Stadt scheint von alldem nichts mitbekommen zu haben. Es ist dunkel, ruhig und der Wind weht ein laues Lüftchen. Ich fange lauthals an zu schreien und ersticke fast an meinen Tränen. Nach einigen Sekunden ringe ich nach Luft und versuche mich wieder zu fassen, blicke mich nochmals um und sehe durch die Verglasung der Eingangstür, wie sie mich alle anstarren, sich aber nicht bewegen. Ich komme mir vor wie ein gehetzter Mörder und renne die Strasse hinab zur Straßenbahnhaltestelle. Dort heule ich eine halbe Ewigkeit, ohne mich rühren zu können.

Es ist inzwischen zwei Uhr morgens. Was mache ich nun? Die nächste Bahn fährt erst in 40 Minuten. Und ich weiß nicht einmal wohin ich fahren sollte. Der einzige, den ich in dieser verfluchten Stadt kenne, ist der Makler. Der Makler! Vielleicht kann er mir helfen. Weiß er von all dem? Kann er mir erklären, was in dem Schloss vor sich geht? Oder gehört er gar auch zu diesen Wahnsinnigen? Wild entschlossen greife ich zum Handy, überlege einen Moment, ob ich nicht doch lieber die Polizei anrufen soll, weiß aber nicht, was ich denen sagen sollte und wähle kurzerhand die Nummer des Maklers. Nach dem vierten Klingeln des siebten Anrufversuches geht er endlich ran.

Seine Stimme klingt wütend und schlaftrunken zugleich. Noch immer aufgelöst, erzähle ich ihm in groben Zügen, was passiert ist und fange erneut an zu weinen. Er versucht mich zu beruhigen und meint, er hole mich in zehn Minuten ab, ich solle mich nicht vom Fleck bewegen, in das vorderste Fach meiner Tasche sehen und mich wieder sammeln. Es sei alles in Ordnung. Das irritiert mich. Er legt auf und lässt mich wie ein Häufchen Elend zurück. Ich öffne hastig den Reißverschluss, greife hinein und ertaste gewölbtes Plastik. Ich nehme es heraus und sehe, dass schon drei der Tabletten fehlen. In meinem Bauch strampelt es, die Straßenlaternen flackern.

Verbreiten, teilen, infizieren!