Freunde fürs Leben?

Draußen scheint die Sonne. Vogelgezwitscher lockt ins Freie. Kinderlachen durchdringt das geöffnete Fenster. Eine alte Dame sitzt im Rollstuhl und beobachtet eine Amsel, die auf den Fenstersims gelandet ist. So schnell das Amselweibchen da war, so flink fliegt es weiter. Die alte Dame ist müde, sehr müde. In der großen Eiche, die vor ihrem Fenster des Pflegheims steht, verschwindet Alles. Ja Alles, wenn sie nur lange genug darauf starrt. Ihre Gedanken kommen und gehen. Je länger sie in den Baum starrt, umso müder wird sie. Das Denken strengt sie an. Manchmal schreit sie laut auf. Dann sind sie wieder da. Diese Monate, Tage, Stunden und Minuten, die sie über Jahrzehnte verdrängt hatte. Gut verdrängt hatte, zu gut verdrängt hatte. Jetzt erscheinen ihr immer wieder diese grausamen Bilder vor Augen, wenn sie mit ihrem Rollstuhl vor diesem Fenster sitzt. Die Pflegekraft meint es gut mit ihr, ahnt nicht, was sie einst erlebt hatte. Sie ist nur eins der vielen Kriegsopfer, die es auf der Welt gibt. Unsichtbare Narben versteckte sie, wollte damit nicht hausieren gehen.

Ihre Zeit läuft nun ab und sie will nicht mehr. Körperliche Schwäche zwingt sie in den Rollstuhl. Ihre Blasenschwäche wird durch Windeln behoben. Immer wieder kreisen ihre Gedanken wie im Sturzflug eines Turmfalken, der die Beute im Visier hat. Ganz schwindelig wird ihr dabei. Dann fällt sie wie in Trance. Immer wieder sieht sie sich als Beute, die leicht zu fangen ist. Wenn es ganz schlimm wird, dann schreit sie ganz laut auf und stört dann meistens ihre Mitbewohnerin. Sie kann sich kein Einzelzimmer leisten, zu teuer. Geheiratet hat sie nie – keiner hätte sie gewollt, so ihre Aussage noch heute, wenn eine der Schwestern wieder neugierig nachfragt. Kinder hätte sie sowieso keine mehr bekommen können, sie ist froh, dass es so ist, dabei denkt sie dann an die Gene ihres Vaters. Sie wurde mehrfach vergewaltigt, doch das ist lange her. Es gab keine Prozesse. Warum auch? Es war der eigene Vater, der sie als Kind missbrauchte. Er, das Schwein in der Familie, war ein Nazi durch und durch. Weinen kann sie schon lange nicht mehr, sie sah zu viel. Viel zu viel. Ihre Mutter starb im Kindbett ihres Bruders Adolf. Der Kleine starb bei einem Bombenangriff. Sein Vorname hätte ihn sein Leben lang verfolgt, wie ihr Geheimnis. Auf ihrem Nachnamen liegt eine schwere Bürde. Jetzt wird ihr wieder furchtbar schwindelig. Sie starrt schon zu lange auf die Eiche. Keine Schwester kommt. Sie ist zu schwach, um selbst den Rollstuhl zu bewegen. Die Handbremse ist fest. Ihr wird schwarz vor Augen.

Neuerdings hat sie wieder den Gestank von verkohlten Leichen in der Kindernase von einst. Der beißende Gestank übertüncht in Gedanken die Realität des Urins in der Windel. Der Geruch begleitet sie nun tagtäglich, seitdem sie diese grausamen Bilder wieder vor Augen hat, die sie solange verdrängte. Jedes Mal wenn sie in den großen Baum starrt, holt sie die grausame Erinnerung an ihre Kindheit ein. Sie hat viel gesehen, zu viel gesehen, um das Grauen in Worte zu fassen. Jahrzehntelang schwieg sie. Zu sehr litt sie unter den Grausamkeiten des Dritten Reichs und dem Teufel in Person – ihrem Vater. Immer öfters schreit sie nun voller Angst auf, als käme endlich all ihre Wut und Schmerz zum Vorschein. Keiner hat dafür Verständnis. Die genervte Betreuerin und die überforderten Pflegerinnen sind sich seit einer halben Stunde einig, so dass sich die anderen Heimbewohner nicht mehr gestört fühlen. Ab heute Abend soll die alte Dame mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Die vielen Pillen werden nun ihr bester Freund werden, wie damals ihr geliebter Teddy Paul…

©Corina Wagner, April 2012/Themenwoche / zeitverdichtet
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