Weltenreisen

Irritiert befreie ich mich von den vertrauten Wurzeln, die mich versuchen zurückzuhalten. Ruhen ist nun mal leichter als Kämpfen und ich habe hier sehr lange geruht. Warum ich nun mein Grab verlasse, weiß ich selbst noch nicht. Breche ich die marode Kiste ohne viel Mühe auf und lasse mich von fremdem Schmerz leiten. Die Dämmerung brennt in meinen Augen, so lange habe ich nichts gesehen. Als wäre ich seit Jahren endlich wieder bei Bewusstsein, steuere ich zielstrebig auf ein Haus zu. Blasse Erinnerungen drängen sich mir auf, doch erkenne ich nichts, was mich wachrüttelt, während ich durch das Haus wandle. Meine Uhr tickt anders, als die, die ich an der Wand hängen sehe. Ich bewege mich sehr viel langsamer und auch meine Gedanken kreisen nur träge.

Angekommen in einem abgedunkelten Zimmer, nachdem ich den vertrauten und doch so fremden Gefühlen gefolgt bin, stehe ich vor einem jungen Mann. Er sieht unglücklich aus und auch nach Tagen, die sich für mich nur wie Minuten anfühlen, ist kaum Regung in ihm zu erkennen. Ich sehe mich um, er scheint mich nicht zu bemerken. Als ich ihn näher betrachte, haut mich eine Wucht der Erinnerungen beinahe um. Mein Spiegelbild in seinem Gesicht, eine andere Frisur. Langsam wird mir bewusst, vor wem ich stehe. Mein Sohn, den ich in den Armen seiner Mutter, meiner Frau, zurück gelassen habe. Er war damals erst vier Jahre alt. Wie lange mag das wohl her sein? Er sieht erwachsen aus und wirkt doch so kindlich hilflos.
Ich verbringe viel Zeit damit, ihn zu beobachten, mich in seine Gedankenwelt einzuschleichen und mich zu erinnern. Erinnern an seinen Namen, an mich selbst und mein Leben, als ich noch lebte. Warum tue ich es nicht mehr? Warum bin ich nun hier?

An der Wand hängt eine Auszeichnung. Jonas. So ist sein Name. Und er wurde für seine Noten ausgezeichnet. Nun zwingt er sich täglich aus dem Bett, um einer Arbeit nachzugehen. Ansonsten scheint er kaum etwas zu unternehmen. Die Eindrücke ziehen zu schnell für meine müden Zellen vorbei. Der Anblick meiner damaligen Ehefrau lässt mich kalt, auch ihr neuer Lebensgefährte interessiert mich nicht. Nur mein Sohn löst etwas in mir aus. Er war es auch, der mich herbeigesehnt hat. Und nun bin ich da, werde doch von niemandem wahrgenommen.
Wochen vergehen, bis mir klar wird, was mich her geführt hat. Sein Schmerz ist mir so bekannt, so nah, und trifft mich wie mein eigener. Dieser Schmerz, der nicht enden will und mich damals dazu brachte, mir das Leben zu nehmen. Mir fällt alles wieder ein. Heldenhaft inszenierter ich einen Streit, um ausziehen zu können, mich zu verabschieden und mich einsam in der neuen Wohnung zu erhängen. Ich wollte meine Familie damit schützen und mich selbst feige dem Schmerz und der dauernden Traurigkeit entziehen.

Jetzt wo mir bewusst wird, wo das alles enden wird, spüre ich einen Stich an der Stelle, wo einst mein Herz pochte. Ich versuche mich der Geschwindigkeit seines Lebens anzupassen und ihn irgendwie zu berühren. Er wurde lange nicht mehr berührt. Und obwohl er mich weder hören, noch spüren kann, scheint er nachts in seinen Träumen auf mich zu reagieren. So suche ich einen Weg dorthin und halte mich an den Grashalmen fest, die er sich herbeiträumt. Er lässt einen Drachen steigen, ganz hoch hinauf über sattgrünen Feldern. Ein einziger großer Baum inmitten des Grüns. Ich sitze unter dem Baum und beobachte ihn, wie er freudig springt und den Drachen überholt, bis sich dieser in der Krone verheddert. Er ist wieder ein kleiner Junge, ungefähr sechs Jahre alt. Im Schneidersitz lässt er sich vor mir nieder, streckt seinen Arm nach oben zu den tiefhängenden Ästen. Er pflückt sich einen Wunsch und steckt ihn sich in den Mund.

So feig und dumm wie ich es damals war, wünscht er sich, bei mir zu sein. Ist sich des Preises nicht bewusst, kann nicht abschätzen, was er sich selbst vorenthält. Er zehrt von seinem Weltenschmerz, ich zerre und rangle mit den Möglichkeiten, ihn vom Vorhaben abzubringen. Ist er selbst im Traum schon so tief ins Gras gesunken, dass ich ihn kaum noch erreichen kann. Versuche seinen Traum zu beeinflussen, ihn zu steuern und das Ruder rumzureißen. Ich schreibe ihm einen Brief in sein Gesicht, in der Hoffnung, dass ihn die Erkenntnis im Spiegel trifft. Ich zeige ihm ein Labyrinth aus Einsamkeit, Schatten, Schmerz und Angst. Pflanze ihm Bilder vom ewigen Krieg gegen sich selbst in sein Gehirn und rüttle an seinem Bewusstsein. Zum Vergleich zeige ich ihm die schönen Seiten aus dem Bilderbuch Leben, dir mir nie gezeigt wurden. Wenn ich könnte, würde ich für ihn leben, um ihm alles Schöne zu zeigen.

Trotz Schutzmantel halb erfroren, sitzt er nun schon seit Stunden reglos unter dem Baum. Mit dem Morgenrot erwacht ein Hoffnungsschimmer, als er sich die salzig verklebten Augen reibt und in der Ferne ein Stück Zukunft entdeckt. Er macht sich neugierig auf den Weg dorthin und lässt mich hier sitzen. Ein einziger Blick über seine Schulter zurück und ich verspreche stumm, auch für viele Ewigkeiten auf ihn zu warten. Nachdem er aus meinem Sichtfeld verschwindet, warte ich nur noch auf das plötzliche Erwachen. Doch es passiert nichts. Neben der leeren Packung Tabletten wird er ewig ruhen, denn das ist einfacher als Kämpfen.

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