Wie viel kann man ertragen, wenn man nichts erwartet hat?
Angekommen in unserem neuen Zuhause. Das alte mussten wir für den neuen Job meines Mannes aufgeben. Dafür beziehen wir nun eine schöne Wohnung in einem sanierten Schloss, welches zwar direkt in der Stadt liegt, jedoch durch das weitläufige Anwesen sehr idyllisch wirkt. Die gesamte Umgebung erinnert mich an die irischen Filme, die ich immer gerne gesehen habe.
Während unsere Helfer die letzten Kartons in die zweite Etage bugsieren, räume ich die ersten Sachen aus und versuche sie so zu verstauen, dass ich sie anschließend möglichst wieder finde. Gar nicht so einfach. Ich habe das Gefühl, dass die Wohnung bei der Besichtigung völlig anders aussah. Den Schnitt der einzelnen Räume hatte ich anders in Erinnerung und irgendwer scheint die alten Möbel noch mal verrückt zu haben. Ich würde daran zweifeln, dass dies die richtige Wohnung ist, hätte uns der Makler nicht aufgeschlossen und die Schlüssel überreicht.
Nachdem sich unsere Freunde gestärkt haben, begleite ich sie nach unten und sehe ihnen wehmütig über den großen Hof hinterher. Als sie auf die stark befahrene Straße abbiegen, lassen sie mir das Gefühl zurück, hier noch viele einsame Stunden verbringen zu müssen. Ich blicke an der Hauswand hinauf und sehe meinen Mann gestikulierend mit dem Telefon am Fenster stehen. Weit entfernt von Familie und Freunden, dafür näher am beruflichen Erfolg, wie Hannes es zu sagen pflegt. Klingt eigentlich märchenhaft: tolle neue Wohnung, das erste Kind im sechsten Monat unterwegs, seit einem Jahr mit einem gutverdienenden Traummann verheiratet, sodass ich mir vorerst keine neue Stelle suchen muss und die Schwangerschaft in vollen Zügen genießen kann. Kein Grund zur Beschwerde.
Ich werde schnell Kontakte knüpfen müssen, um hier nicht zu vereinsamen. Jedoch habe ich, abgesehen vom Makler, noch keine Menschenseele gesehen, obwohl sich rings um das wunderschöne Treppenhaus auf jeder Etage vier Wohnungen befinden. Während ich mit den Fingern über das dunkle Mahagoni des Handlaufes fahre, fällt mir auf, dass an keiner der Türen ein Namensschild angebracht ist. Auch sonst wirkt das Gemäuer so still und unbewohnt, dass es den Anschein erweckt, es würde komplett leer stehen. Die einzigen Geräusche die ich höre, sind Hannes’ erhobene Stimme und das dezente Knarzen der schweren Wohnungstür, die dennoch federleicht hinter mir ins Schloss fällt.
Die erste Nacht schlafen wir beide sehr unruhig, merkwürdige Umgebungsgeräusche reißen mich immer wieder aus meinem leichten Schlaf. Irgendwann, während Hannes sich erneut umherwälzt, gebe ich auf. Taumelnd gehe ich in Richtung Badezimmer und stehe orientierungslos vor einer Wand, wo ich eigentlich die Tür vermutet hatte. Auf dem Weg zur nächsten Tür muss ich um die restlichen Umzugskartons herumbalancieren. Durch den Türspalt dringt gedämpftes Licht zu mir, welches mich unsicher und doch neugierig macht.
Mühelos lässt sie sich öffnen und ich stehe im Flur einer augenscheinlich anderen Wohnung. Das hatte ich nicht erwartet. Vom Schnitt her ähnlich unseres neuen Heims, kann ich in den zwei einsehbaren Räumen Möbel in einem gemütlichen Stil erkennen. Ich stehe im Rahmen zwischen den beiden Wohnungen und weiß nicht, was ich tun soll. Ein zaghaftes „Hallo?“ bringe ich hervor und warte gespannt auf eine Reaktion. Für einen kurzen Moment strampelt es wie wild in meinem Bauch. Das Licht fängt an zu flackern, erstrahlt jedoch sofort wieder in vorheriger Stärke. Skepsis macht sich in mir breit. Da im Hintergrund gedämpfte Musik zu hören ist, setze ich erneut fragend an, sammle meinen Mut zusammen und trete in die fremde Wohnung. Ich steuere auf einen der Räume zu und rufe nun etwas lauter. Das wirkt alles so surreal, dass ich die Tapete anfassen muss, um mir zu beweisen, dass sie echt ist.
Auf einem dunklen Tisch neben dem Bett steht ein Monitor, auf dem ein Profil eines Internetportals zu sehen ist. Indiskret sehe ich mir das abgebildete Foto an. Ich stocke und fühle mich wie spontan vor den Kopf gestoßen. Tatsächlich kenne ich die Person. Claudia, eine frühere Klassenkameradin lächelt mir entgegen. Wir hatten nie viel miteinander zu tun. Uns trennten unterschiedliche Interessen und doch standen wir uns neutral gegenüber.
Meine Gedanken werden durch ein aufforderndes Räuspern unterbrochen. Für einen Moment setzt mein Herz aus. Ich drehe mich um und blicke direkt in ihr Gesicht. Sie sieht zwanzig Jahre älter aus, als sie eigentlich sein dürfte. Den Körper in ein roséfarbenes Handtuch gewickelt, die Haare unter einem Turban versteckt und ihre Arme in die Seiten gestemmt, steht sie im Türrahmen zu ihrem Badezimmer. Sie sieht mich fragend an, als würde sie mich nicht wiedererkennen. Ich fühle mich ertappt und peinlich berührt, begrüße sie stotternd und erkläre ihr vorsichtshalber wer ich bin. Ein Versuch, um von meinem unangebrachten Besuch abzulenken.
Während sie nach einer Cremedose auf dem Nachtkästchen greift, mustert sie unverhohlen meinen Bauch, der sich längst deutlich sichtbar abzeichnet. Dabei verzieht sie keine Miene, was mich nur noch mehr verunsichert. Ich erzähle ihr stammelnd von unserem Umzug und eine Zusammenfassung meiner letzten Jahre, um die unangenehme Situation etwas aufzulockern. Sie wendet sich von mir ab, als sie mit beiden Händen ihr Gesicht eincremt. Die Haare schüttelt sie kopfüber aus, sodass die dunklen Locken um ihr Gesicht fallen. Als sie sich wieder zu mir dreht, kann ich meinen Augen kaum trauen. Sie sieht plötzlich wieder sehr jung aus, jünger noch als es ihrem Alter entsprechen sollte. Als könne sie meine Gedanken lesen, grinst sie verschmitzt, lotst mich in ihr Badezimmer und antwortet dort souverän auf die Frage, wie es ihr die Jahre über ergangen ist.
Neben der Badewanne, steht eine weitere Tür halb offen. Während Claudia sich weiterhin ihrer Körperpflege widmet, höre ich ihr nur noch mit halbem Ohr zu. Sie hat ein Studium abgeschlossen, gewinnt dadurch trotzdem nicht meine Aufmerksamkeit. Ich bin noch immer verwirrt. Um einen Blick in den angrenzenden Raum zu erhaschen, lehne ich mich unauffällig ein Stück nach vorn. Ich kann nicht glauben, was ich da sehe, fühle mich wie in einem schlechten Film. Eine dicke Frau in einem geblümten Nachthemd, sitzt tonlos auf einem Hocker vor einem Spiegeltisch und rasiert sich unbeirrt das Gesicht. Ich gebe mir gar keine Mühe, meine Überraschung zu verbergen und starre sie an. Bis sie ihren Kopf zu mir dreht und ich unweigerlich einen Schritt zurück trete. Als ich dabei direkt gegen meinen Mann pralle, schrecke ich zusammen. Mein Herz rast. Er erklärt sofort entschuldigend, dass er sich besorgt auf die Suche nach mir gemacht hat, als er aufwachte und ich nicht mehr neben ihm lag. Ich hatte ihn nicht kommen hören und doch bin ich erleichtert, dass er nun bei mir ist. Das gibt mir Sicherheit, mich nicht nur in einem verrückten Traum zu befinden und bietet mir einen Grund, aus der gespenstischen Situation auszubrechen. Ich versuche meine Gedanken zu sortieren und stelle ihm verdattert meine damalige Klassenkameradin vor. Sie nicken sich nur unbeeindruckt zu, woraufhin unangenehme Stille folgt. Ich durchbreche ich das Schweigen, indem ich Claudia für die kommende Woche zu uns einlade und verabschiede mich auf diese Weise von ihr.
Hannes, der zweifellos einen besseren Orientierungssinn als ich besitzt, führt mich zurück in unsere Wohnung. Er zeigt mir den Weg zu unserem Badezimmer, das ich zuvor vergeblich gesucht hatte. Die Sonne ist längst aufgegangen und ich verfüge neuerdings anscheinend über keinerlei Zeitgefühl mehr. Obwohl ich den Schlaf gut gebrauchen könnte, kann ich mich nicht mehr hinlegen. Hannes scheint weniger besorgt zu sein und rollt sich erneut in die Decke ein, während ich Kartons aus- und Regale einräume, um mich abzulenken. Im Wohnzimmer überkommt mich das Gefühl, dass das große Bücherregal vor kurzem noch ein oder zwei Meter versetzt stand. Ich rede mir ein, dass Hannes es wohl verschoben haben muss. Bis ich mich mit Büchern bepackt dem dunklen Regal nähere und eine weitere Tür daneben entdecke. Ich schließe reflexartig die Augen und öffne sie wenige Sekunden später in der Hoffnung, dass sie von allein verschwindet und es sich nur um eine vorübergehende Halluzination handelt. Bitte nicht noch eine Tür! Da das Augenzukneifen auch nach fünf Versuchen nichts bringt, lege die Bücher achtlos ins Regal und sprinte ins Schlafzimmer, um mich doch noch schutzsuchend anzuschmiegen.
Als ich wieder aufwache, liege ich allein im Bett. Die Erinnerungen an die letzten Stunden kehren zurück und mit ihnen steigt auch das Grausen wieder in mir auf. Aus Angst den Verstand zu verlieren, rufe ich panisch nach Hannes. Er antwortet zwar prompt aus dem Bad, aber mit merkwürdig abgedämpfter Stimme. So hörte ich ihn nie sprechen. Die Nachttischlampe flackert für einen Moment auf, erlischt jedoch sofort wieder. Ich versuche die Nerven zu behalten, atme mehrmals tief durch, streichle sanft über meinen unruhigen Bauch und stehe langsam auf. Auf Zehenspitzen tipple ich ins Wohnzimmer, um mich davon zu überzeugen, dass alles gut ist. Die Tür hat sich leider noch immer nicht in Luft aufgelöst, doch die ins Regal gestellten Bücher liegen nun auf dem Parkett.
Und just in diesem Moment öffnet sich vor meinen Augen in Zeitlupentempo mit einem fiesen Knarren die Tür gerade so weit, dass ich durch den Spalt erneut in einen Flur blicken kann. Mein Herz hat einen erneuten Aussetzer. Unbeweglich stehe ich noch immer auf Zehenspitzen und starre gebannt auf die Tür. Selbst wenn ich vorhätte mich zu bewegen, glaube ich, wären meine Muskeln dazu nicht in der Lage und würden ihre Spannung schon beim ersten Schritt verlieren. Der erste Gedanke der mir durch den Kopf schießt, ist, dass ich wieder zurück in die alte Wohnung und mein altes, zwar meist flatterhaftes und chaotisches, aber dennoch solides Leben zurück will. Dort passierten nie solch seltsame Dinge, die ich mir nicht erklären kann.
Wie lange ich so verharre, weiß ich nicht, denn plötzlich steht Hannes direkt vor mir, packt mich mit beiden Händen an den Schultern und schüttelt mich. Erneut habe ich ihn nicht kommen hören und sinke nun, da ich ihn wahrnehme, erleichtert in seine Arme. Mein Deuten auf die offenstehende Tür wiegelt er ab und schiebt mich in die Küche, drückt mich sanft auf einen Stuhl und kocht mir einen Tee, der mich entspannen soll. Um ihm den Gefallen zu tun, trinke ich die bittere Flüssigkeit und atme wie mir befohlen wird, abermals tief durch. Bringt jedoch nicht viel, da kurz darauf erneut merkwürdige Geräusche ertönen. Nervös wie ich bin, schrecke ich auf und umklammere die Tasse, wodurch ich versuche, mir selbst ein bisschen Halt zu geben. Hannes bleibt dabei völlig entspannt und scheint mich innerlich auszulachen, was mich direkt wütend macht. Entschuldigend bietet er mir an, mit mir gemeinsam nachzusehen woher die Geräusche kamen. Ich willige ein. Besser als allein gehen zu müssen.
Ich schleiche ihm angespannt ins Treppenhaus hinterher. Da durch die wenigen Fenster nur spärliches Licht hereinbricht, drückt er den Schalter, welcher für warme Beleuchtung in allen Etagen sorgt. Mein Körper fängt unweigerlich an zu zittern, mein Herz pocht so laut, dass ich das Blut in den Ohren rauschen höre…
-Fortsetzung folgt-

Rosemary´s baby meets Shining!
Wie oft ich nun schon auf den Film angesprochen wurde… sollte ihn mir wohl tatsächlich mal ansehen.
Eijo machemol!