Knochenwald, Teil eins.

»Können Sie mir helfen?« fragte sie. Ein ängstlicher Blick, verstört und abweisend, schaute mich eindringlich an. In diesem Moment sah sie aus wie ein Kind; als ob eine unsichtbare göttliche Weisung zwanzig Jahre aus ihrem Leben gestrichen hätte. Die Gesichtszüge waren weich und glatt, die Augen groß und rund wie Glasmurmeln in Stofftieren. So sah sie später nie wieder aus.

Ein konstanter Ostwind ließ eine blonde Strähne in ihrem Gesicht zittern. Sie war offensichtlich besser auf das Wetter eingestellt als ich. Sie trug ein schwarzes Regencape mit Fellkapuze, während ein feiner Nieselregen mein bestes Hemd durchdrang und mich langsam auskühlte. »Können Sie mir bitte helfen!« sagte sie noch einmal und unterstrich ihre Aufforderung mit einer leisen aber energischen Anhebung ihrer Stimme.

»Ist es denn schon Weihnachten?« sagte ich zynisch und bereute die Frage im gleichen Augenblick. Die Kaltherzigkeit war unpassend und unhöflich. Ich sackte unmerklich in mich zusammen. Ihr Blick senkte sich, suchte nach einem sicheren Halt auf dem glitzernden Asphalt und fand keinen.

Wie tief bin ich gesunken, durchzuckte mich die Erkenntnis und schon kam der nächste Gewissensbiss; dass ich mit mir selbst auseinandersetzte, statt dieser Frau zu helfen, die sich offensichtlich in einer Notlage befand, deren Umfang ich nicht einschätzen konnte. Diese Ungewissheit machte es mir nicht leichter. Die unbequeme Ahnung, für jemand Unbekannten einen Handstreich oder mehr tun zu müssen, ließ mich unmerklich einen Schritt zurückweichen. Das Wetter tat sein Übriges, um die Situation so unangenehm wie möglich werden zu lassen. Der Nieselregen wuchs binnen weniger Minuten zu einem sintflutartigen Regenguss an. Vielleicht hatte Gott nun endlich genug von seiner Schöpfung. Oder zumindest von mir. Ich war moralisch und ethisch gesehen ein Paradebeispiel seines misslungenen Expermiments Menschheit. 

«Mein Name ist Anna Karilenko, ich bin russische Staatsbürgerin.» Die Erwähnung ihrer Heimat gab ihr tatsächlich Selbstsicherheit, ihr Blick wurde stolz, sie richtete ihren Körper auf und ich bemerkte, wie ihre weissen Fingerknöchel – sie hatte die Hände energisch zu Fäusten geballt – in den Taschen ihres Regenmantels verschwanden. Sie fixierte mich wie die Schlange das Kaninchen und endlich gab ich meinem Herz einen Stoß. Ich schaute sie an und erkannte in ihrem selbstsicheren Blick, dass ich ihr letztendlich helfen würde. Sie hatte längst die Kontrolle über das Gespräch übernommen.

«Wie kann ich Ihnen helfen, Anna Karilenko aus Russland», flüsterte ich. Große Tropfen liefen über mein Gesicht, wie die wahrgewordene Trauer Gottes und ich war mir nicht sicher ob ich leise genug gesprochen hatte, um mein Angebot im Prasseln des Regens untergehen zu lassen.

Ich wollte längst zuhause sein. Ein Rotweinglas in der Hand, einen Literaturklassiker auf dem Schoß. Wenige Seiten lesen, die Augen schließen und mich dem leisen Summen des Vergessens hingeben, das der Alkohol nach wenigen Schlucken in mir auslöst. Stattdessen stand ich hier, einen halben Meter vom meinem Auto entfernt, den Schlüssel schon in der Hand, mit dieser Frau, die im Dunkeln aufgetaucht war, als hätte diese gewalttätige Stadt sie aus ihren Eingeweiden ausgespien.

Als ich klein war, dachte ich diese Stadt wäre eine Stadt aus einer Geschichte. Nachdem sie mich weit mehr als ein Vierteljahrhundert an sich gekettet hatte, erkannte ich ihr wahres Gesicht. «Diese Stadt lebt eine Lüge», sagte ich gedankenverloren und schaute die stolze Russin an. Anna Karilenko antwortete, ohne auf meine Bemerkung einzugehen, dass ich sie mit zu mir nach Hause nehmen sollte.

Verwundert hob ich die Augenbrauen. Die ganze Situation nahm eine unangenehme Wendung. Allein der Gedanke, dass mein unausgesprochenes Angebot zu einer größeren Hilfeleistung als ein Telefonat oder die Wegbeschreibung zur nächsten Polizeiwache werden könnte, liess mich frösteln. Die Gewissheit, den heiligen Samariter spielen zu müssen, erwärmte mich nicht im geringsten und für sexuelle Ambitionen war ich nicht in der Stimmung. Ich war müde, nass und schlecht gelaunt. Der vorangegangene Abend hatte einen erheblichen Beitrag dazu geleistet. Karen hatte mir eindeutig klar gemacht, dass unsere Beziehung mehr als eine Pause benötigte, ohne ihren Teller Gambas nach Thai-Art aus den Augen zu verlieren. Nachdem sie die Sauce mit meiner Brotbeilage aufgewischt und gegessen hatte, stand sie wortlos auf und ließ mich mitsamt der Rechnung in „unserem“ Restaurant sitzen. Ich bestellte mir noch ein Wasser, trank aus, bezahlte und trat dann in die kühle Nachtluft, um ein paar Meter weiter auf die öminöse Russin zu stoßen.

«Ach was soll´s», seufzte ich und drückte den abgewetzen Knopf meines Fahrzeugschlüssels. Mit einem leisen Piepsen öffnete sich die Zentralverriegelung. Bevor ich den Wagen umrundet hatte, saß sie bereits auf dem Beifahrersitz, schlug die fellumrandete Kapuze zurück und fuhr sich mit der linken Hand durch ihr blondes feuchtes Haar. Sie trug einen breiten silberfarbenen Siegelring am Daumen, dessen fein gearbeitete Zieselierung an eine Schlange erinnerte.

Ich startete den Wagen, schaltete die Heizung auf Maximalbetrieb und setzte zurück. Als ich nach hinten blickte, streifte mein Blick ihre Augen. Etwas darin verriet mir, dass sie etwas zu dicht an dem Zaun stand, der den Hof der guten Mädchen von dem der bösen trennt.

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