Aus alt mach neu

Sie hält eine Pinzette in der rechten Hand und starrt sich so nah im Spiegel an, bis alles um die schwarzen Stoppeln der Augenbrauen in einem vernebelten Schleier verschwimmt. Als er plötzlich neben ihr auftaucht, zupft sie sich vor Schreck in die Haut des Lides, sodass ihr die Tränen ins Auge schießen.
– Wann bist du heute verabredet?
– Man! Schleich dich nicht immer so an!
– Entschuldige.
– Hatte ich dir schon gesagt. Um 22 Uhr im Club Central.
– Wer ist alles dabei?
– Interessiert dich das wirklich? Nur die neue Kollegin und ich.
– Dann wünsche ich euch viel Spaß.
Schon war er wieder gewohnt desinteressiert aus dem Türrahmen verschwunden. Sie reckt den Kopf, um ihm skeptisch hinterher zu sehen, wie er langsam in Jogginghose und altem T-Shirt zur Couch trottet, die Tageszeitung in der einen, eine Flasche Bier in der anderen Hand.
– Danke. Mal sehen. Sie ist nett. Und was wirst du machen?
– Heute läuft Fußball.

Natürlich, was auch sonst! Ihr Blick fällt auf eine der Leinwände im Flur, auf der sie schmeichelhaft in warmen Erdtönen abgebildet ist. Er hatte sie vor zwanzig Jahren sehr oft gemalt, konnte sich damals nicht an ihr satt sehen. Das war die Zeit, als er ihr noch liebevolle Kosenamen gab, sie fühlte sich begehrt und geliebt, glaubte dieses Gefühl würde ewig währen. Nun vergleicht sie es mit ihrem Spiegelbild und kramt zögerlich in ihrem Schminkköfferchen, das sie bei jedem der seltenen Einsätze erst mal von einer feinen Staubschicht befreien muss.
Die Vorfreude auf den Abend ist groß, so selten bricht sie aus dem Alltag aus, erlebt etwas Anderes, Neues. Seit vier Monaten arbeitet sie nun mit ihrer neuen Kollegin Lydia in einem Büro, heute unternehmen sie zum ersten Mal auch privat etwas miteinander. Um mit der zehn Jahre Jüngeren annähernd mithalten zu können, schlüpft sie in ihr schönstes Outfit, in das sie erst seit kurzem wieder hinein passt, ohne den Bauch einziehen zu müssen. Sie legt den teuersten Duft auf und den edelsten Schmuck an, den sie besitzt.
Als sie sich eine Stunde später mit klackernden Absätzen und einem flüchtigen Kuss von ihrem Mann verabschiedet, genießt sie insgeheim das kurze Aufleuchten ob ihres Anblickes, seiner in letzter Zeit so müden Augen und glaubt seinen Blick auch noch zu spüren, als sie die Wohnungstür hinter sich schließt und er sich ins Badezimmer begibt.

An der Bar teilen sie sich Selbstbewusstsein und gute Laune aus einer Flasche, gewöhnen sich an die laute Musik, tauen langsam auf und fangen nach einigen Momenten des Unbehagens an, sich zu amüsieren. Dass Gespräche nicht möglich sind und sie den Altersdurchschnitt mit ein paar wenigen Ausnahmen beachtlich senken, stört sie ab dem ersten Schritt auf die Tanzfläche nicht mehr. Ausgelassen tanzen sie, als hätten sie nie etwas anderes gemacht, sie haben Spaß. Irgendwann fordert Lydia eine Pause ein, um auf den Barhockern mit kühlenden Getränken wieder etwas zur Ruhe zu kommen. Lydia sieht sich aufmerksam in dem großen Raum um und macht ihre Kollegin kurz darauf auf einen gepflegten, sehr attraktiven Mann aufmerksam, der auf der anderen Seite der Bar sitzt und die beiden wohl schon seit einiger Zeit beobachten würde. Neugierig folgt sie dem Blick der Jüngeren und ärgert sich ein wenig, dass sie heute aus Gründen der Eitelkeit ihre Brille nicht trägt.
Dann sieht sie ihn ganz deutlich. Wie er sie ungewohnt und doch vertraut charmant anlächelt, dabei mit seinem Whiskyglas spielt, es in einem Zug leert und nüchtern aufsteht, um auf sie zuzusteuern. Was das Flirten angeht, ist sie längst aus der Übung, blickt leicht verschämt zur Seite, will dennoch das Spiel mitspielen, entzieht sich jedoch dem direkten Kontakt, indem sie sich erneut auf die Tanzfläche begibt und ihre Kollegin wortlos an der Bar zurück lässt, die die Situation und auch die weiteren Szenen neugierig und unwissend verfolgt.
Während sie immer wieder seine bewundernden Blicke sucht, bewegt er sich langsam auf sie zu. Sie fühlt sich wie zu Teenagerzeiten, er tanzt sie an, während sie ihm den Rücken zudreht und versucht, sich extra aufreizend zu bewegen. Obwohl ihr warm ist, dehnt sich eine Gänsehaut auf ihrem blassen Körper aus, als er sich ihrem Nacken nähert und ihren Duft einatmet. Er traut sich nicht sie anzufassen, als würde er sie mit einer einzigen Berührung kaputt machen und mit ihr auch den Moment zerstören. Sie brauchen beide keine Worte, denn ihre Körper sprechen ganze Bände der selben Sprache. Lange fühlte sie sich nicht mehr so begehrt, so gewollt. Obwohl er bei all seinen Bewegungen auf ein paar Zentimeter Distanz achtet, spürt sie ihn ganz nah, so vertraut, bis er nach einer halben Ewigkeit des Prickelns an ihr vorbei in Richtung Ausgang geht und sie von dort aus bedeutsam ansieht.
Ein unsicherer Blick zu ihrer Kollegin zeigt ihr, dass diese sich mit einem Kerl Marke Surflehrer amüsiert und daher keinen Grund für Zögerungen darstellt. Sie zupft ihren Rock zurecht und geht selbstbewusst lächelnd auf die ungewohnt anmutende Männlichkeit zu. Fühlte sie sich soeben noch mutig, macht er sie im nächsten Moment schwach, indem er sie unvermittelt zu sich zieht, eine Hand an der Taille, die andere vorsichtig am Nacken, um sie erst behutsam und dann immer fordernder zu küssen. Würde er sie nicht so fest im Griff haben, würden ihre Knie nachgeben.

Begierde und Leidenschaft füllen das Taxi aus und beschlagen die Fenster, wie seine beharrlich suchenden Hände ihren Verstand. Als er sie gegen die kalte Wand im Flur direkt neben den Bilderrahmen drückt, liegt ihre Kleidung längst auf dem Boden verteilt. Seine Stärke macht sie schwach. Je grober er sie anpackt, desto mehr Verlangen spürt sie und gibt sich ihm willig hin, überlässt ihm die Macht über ihren flehenden Körper. Im Bett sucht sie nach Halt, krallt sich in Laken und Matratze, windet sich, bittet stöhnend um Erlösung, gräbt ihre Nägel schließlich in seine Haut bis er sich vor ihr aufbäumt, endlich ihre Beine nach oben reißt und so hart und tief in sie vorstößt, wie sie noch nie genommen wurde. Nach einer Explosion geballter Lust und pulsierender Empfindungen, sinken sie beide geschwächt und befriedigt auf die Matratzen.

Vorsichtig hebt sie ihren brummenden Kopf an, mustert flüchtig die Spuren der verlaufenen Wimperntusche auf ihrem Unterarm und blinzelt mit schweren Lidern der Sonne entgegen, die ihre Wärme hemmungslos durch die Jalousien direkt auf ihren nackten Körper legt, der sich quer über das ganze Bett erstreckt. Er sitzt konzentriert auf einem Stuhl und blickt immer wieder über den Rand eines Zeichenblockes, während sich seine rechte Hand eifrig auf dem Papier bewegt. Seine vertraute Silhouette hebt sich dunkel vor dem Fenster ab.
– Was machst du da?
– Guten Morgen Liebling. Nicht bewegen! Du bist heute so schön wie nie zuvor, das muss ich unbedingt festhalten.

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