Noch heute wird Alice häufig wie ein kleines Mädchen behandelt, falls sie überhaupt wahrgenommen wird. Selbst wenn sie ihrer Mutter eine Packung Mon Chéri mitbringt, wird sie nach ihrem Ausweis gefragt. Fehlt nur, dass ihr die Wurstfachverkäuferin aufgrund der kindlich wirkenden, zierlichen Gestalt, eine Extrascheibe Lyoner über die Theke reicht. Vermutlich würde sie es nicht mal mitbekommen, da ihr Blick meist auf den Boden oder ihre Schuhspitzen gerichtet ist. Das dunkle, glatte Haar fällt dabei so weit ins Gesicht, dass man selbiges kaum mehr erkennen kann. Sie ist das, was sie selbst importun als Einzelgänger, jeder andere jedoch als scheu und unscheinbar bezeichnen würde.
Ihr Arbeitsweg führt durch einen kleinen Stadtpark, in dem sich zu beinahe jeder Tageszeit Kinder auf dem Spielplatz austoben. Bevor Alice die gepflegte Anlage betritt, zieht sie die Schultern nach oben und den Schal noch höher über das Kinn, achtet dabei akribisch darauf, mit den Haarsträhnen ihre vernarbte Wange zu verdecken.
Sie kann Kinder nicht leiden, oder hat genauer gesagt Angst vor ihnen. Als sie selbst noch eines war, wurde sie gehänselt bis die Tränen flossen. Entweder ihre eigenen, oder die desjenigen, auf welches sie vor Wut und Ausweglosigkeit mechanisch einschlug bis sie sich aus der Situation befreien konnte. Damals wünschte sie sich oft in das gleichnamige Wunderland. Rüdiger, der selbst vielfach aufgrund seines Gewichts gehänselt wurde, stellte sich in diesen Momenten oftmals helfend an ihre Seite. Heutzutage braucht sie diese Unterstützung nicht mehr, denn keines der spielenden Kinder nimmt Notiz von ihr. Sie scheint so unsichtbar, dass nicht einmal ihre hastigen Schritte Spuren im ersten Schnee des Jahres hinterlassen.
Dank ihrer Jahreskarte der städtischen Museen, sitzt Alice nach Feierabend oft stundenlang in immer demselben Raum auf einer Bank, starrt auf immer dasselbe Bild und wird dabei weder wahrgenommen, noch angesprochen. Sie trägt dezente Kleidung in unauffälligen Farben und sieht niemandem direkt in die Augen. Fällt der Blick eines aufmerksamen Besuchers doch auf sie, spürt sie diesen wie Nadelstiche auf der Haut und wendet sich beschämt ab. Falls sie unaufmerksam war und die Sicht auf die Vernarbungen frei liegt, sehen die fremden Augen immer zuerst betreten weg.
Wenn sie sich nicht mit Rüdiger trifft, der die Pfunde längst verloren und dafür an Selbstbewusstsein gewonnen hat, verbringt sie die Tage dort im Museum für sich allein. Heute haben sie sich für den Nachmittag bei ihm verabredet. Alice bummelt ihre zahlreichen Überstunden ab und da sie im Job genauso unscheinbar auftritt, fällt vermutlich niemandem auf, dass sie nicht anwesend ist. Sie hält sich gerne im Hintergrund und würde aufgrund dessen niemals nach einer Beförderung fragen, jedoch würde auch niemand bei einem freiwerdenden Posten an sie denken, obwohl sie ihre Arbeit stets gut und zuverlässig erledigt.
Die Hände in den Manteltaschen vergraben, spielt sie mit dem Kleingeld, welches sie dem Mann an der U-Bahn-Station jedes Mal, wenn sie sich auf den Weg zu Rüdiger macht, in den Becher wirft. Immer hat sie ein leises Lächeln übrig, nie empfindet sie Mitleid für ihn. Irgendwie mag sie ihn. Auch heute nickt sie ihm freundlich zu, während sie die Münzen in die Pappe fallen lässt. Die gewohnte Reaktion ist ein herzliches Dankeschön, gepaart mit einem schiefen Lächeln, welches seine unvollständigen Zahnreihen offenbart. Doch diesmal greift er nach ihrem Handgelenk und sieht sie eindringlich an, ohne dabei bedrohlich zu wirken. Obwohl Alice ein ängstlicher Mensch ist und den Mann nicht näher kennt, fürchtet sie sich auch dann nicht vor ihm, als er sich ungeahnt groß vor ihr aufbäumt. Er streicht ihr behutsam die Haare aus dem Gesicht und sieht sie sich genau an. Sie ist paralysiert, kann sich nicht wegdrehen, wie sie es sonst tun würde, sucht stattdessen in seinen Augen nach Ekel oder Mitleid und findet ein warmes Grünbraun. Er lockert seinen Griff und umarmt sie, drückt seine Wange sanft gegen ihre und flüstert ihr ins Ohr, dass sie ein guter Mensch sei. Völlig perplex rührt sie sich erst dann, als die Bahn eingefahren ist und er sie leicht von sich weg stößt.
Sie sieht ihm von weitem durch die schmutzigen Scheiben nach, wie er langsam zurück auf seinen gewohnten Platz sinkt. Er roch besser als sie zuvor geglaubt hatte. Während die Bahn durch den langen Tunnel brettert, spiegelt sie sich selbst im Glas. Ungläubig mustert sie ihr Gesicht und tastet sich hektisch ab. Nach einigen Momenten wendet sie sich den anderen Fahrgästen zu und liest in deren Mimik das, was sie nicht fassen kann. Ein attraktiver Mann, ihr schräg gegenüber, sieht sie bewundernd an und lächelt schüchtern in ihre Richtung. Diese Reaktion war ihr bisher unbekannt.
Aufrechten Ganges läuft sie die Treppen hinauf und sieht während des gesamten Weges in ungewohnt viele freundliche Gesichter. Als sie den Klingelknopf zu seiner Wohnung drückt, kommt Rüdiger ihr wie immer gut gelaunt entgegen, nimmt sie in den Arm und bittet sie herein. Erst als sie im Flur stehen bleibt, fragt er, ob alles in Ordnung sei. Auf ihre Frage, ob er finde, dass sie heute irgendwie anders aussähe, antwortet er mit sanfter Stimme: „Etwas verwirrt, aber bezaubernd wie immer!“
