Märchenhafter Tagebucheintrag

Aus dem Tagebuch einer Märchentante

Heute ist ein verfluchter Tag, bin irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden und gleich mit dem Kopf gegen die alte Biedermeier Kommode gestoßen. Dabei flog mit voller Wucht mein geliebter Totenkopf, der Schädel eines Bullterriers aus der Gründerzeit genau auf den linken großen Zeh. Ein Zeichen von Dir? Ich vermisse Deinen perfiden Charme. Beim Anblick in den antiken Spiegel aus dem 16. Jahrhundert, der zwei Minuten später erfolgte, verriet jener nicht viel über meinen Hormonhaushalt.

„Spieglein, Spieglein an der Wand: Sag mir, wer ist die schönste im ganzen Land!“, hätte ich lasziv flüstern können, aber warum? Außer mir war niemand im Raum. Mein Spiegelbild hatte ein Meeting mit Heinrich dem Achten.

Eigentlich wollte ich eine Vermisstenanzeige aufgeben. Nun sitze ich hier und schreibe in meinem Tagebuch, sehne mich nach Dir, bin auf der Suche nach Dir.

Meine Haare sehen zurzeit aus, als wollte sich darin Deine Meise ein Nest bauen. Mit meinem Gesicht war ich heute zufrieden, denn es hätte schlimmer kommen können, wie der Gedanke an Dich. Nachts kann ich nur in Intervallen schlafen.

Und nun ist es schon wieder passiert. Ich denke an Dich. Vielleicht lag es vorhin auch an den quer gestreiften pinkfarbenen Wollsocken, die mich an Dich erinnerten. Sie hängen immer noch sehr dekorativ über dem Chaiselongue. Ein Grund wohl, warum ich völlig depressiv wirkte, als ich am Vormittag das Haus verließ, um mich mit Hänsel und Gretel zu treffen.

Eigentlich habe ich längst den inneren Frieden gefunden, aber wenn ich mich an Dich erinnere, dann werde ich immer so sentimental. Deshalb habe ich nun beschlossen, dass ich Dich jetzt wiederfinden möchte. Eigentlich bin ich schon länger auf der Suche nach Dir. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann suche ich noch nach Vielem, aber vorrangig suche ich Dich. Ja, Dich! Wirklich! Konsequent ab heute!

„Nichts ist mehr so, wie es früher einmal war!“, hörte ich heute früh von meinem Gynäkologen.

Ob Du heimlich mein Tagebuch liest? Blöder Gedanke! Manchmal werden Märchen angeblich wahr. Für Spekulationen sind normalerweise Zombies im feinen Zwirn zuständig. Du bist ganz anders. Seltsam, wenn ich die Augen schließe, kann ich Dein After Shave Marke Blaubart riechen. Hm…

Die abenteuerlichsten Gedanken schwirren im Moment durch meinen Kopf, wenn ich an gestern denke, als ich in einer Leseecke in einer Bücherei saß. Vier Paar Kinderaugen starrten mich entsetzt an, als ich wieder so ein an den Rapunzelhaaren herbeigezogenes Märchen vorlesen musste.

Der Titel klang so vielversprechend: „Kleiner USB-Stick ohne Anschluss“. Doch dann las ich quasi die abstruse Geschichte von Rumpelstilzchen vor, das mit einer Fastfood-Figur von 152 Kilo in einem viel zu engen, knallroten Latexoverall auf Schloss Altschwanstein agiert. Nichts gegen Fortschritt, auch in der Märchenwelt. Doch wenn Rumpelstilzchen im modernen Märchen eine Latexallergie entwickelt, dann bringt das den kleinen Zuhörern nur einen kollektiven Juckreiz. Ich schweife ab, denke ich doch eigentlich nur an Dich. Vorrangig nur an Dich! „Früher war alles besser“, fällt mir gerade dazu ein. Das gestrige Märchen beschäftigt mich sehr, lag wohl auch am Erzählstil des Autors.

Ein blutjunges Mädchen, das zum Mobbingopfer seiner Patchwork-Mutter wird, wirkt ansatzweise wie das zerbrechliche Schneewittchen und gleichzeitig zeigt es Suppenkaspers Charakterstärke.

Ganz furchtbar auch diese übertriebenen Klappergestell-Anfälle der zickigen Schwestern. Wenn das so weiter geht, wechsele ich den Beruf und arbeite für die Arbeitsagentur als Beraterin.

Ich denke immer noch an Dich. Gerade in diesem Moment. Ich vermisse Dich, will Dich weiterhin suchen, wie andere ihre Vernunft. Ob ich Dich bald finden werde? Gestern suchte ich verzweifelt nach dem Sinn einer Märchenstunde und warum, so wenige Kinder noch zuhören. Danach beschloss ich, wenn ich wieder zu Hause bin, nach meinem uralten vergoldeten Märchenbuch zu suchen, das mit den vielen Brillis auf dem Buchrücken.

Auf dem Nachhauseweg stolperte ich mal wieder über einen Verstand, der mitten im Weg lag. Sowas passiert mir öfters. Menschen verlieren ihren Verstand und ich finde ihn dann. Im Bauch spüre ich dann plötzlich so ein sonderbares, komisches Kribbeln. Instinktiv bücke ich mich nach unten und finde jedes Mal einen Verstand, der mal mehr oder weniger ausgeprägt sein kann. Doof ist es, wenn noch das Sprachzentrum mit dran hängt, das kann dann echt nerven. Schön wäre es, wenn es eine Fundgrube gäbe und man den einen oder anderen Verstand abgeben könnte. So lasse ich meistens die Finger davon und mache sie mir nicht schmutzig.

So wie bei Dir damals. Jetzt suche ich Dich. Vorrangig Dich. Alles, absolut ALLES würde ich dafür geben, wenn ich wieder in Deiner Nähe sein könnte. Der Froschkönig könnte quer über mein Himmelbett hüpfen oder Peter Pan meine barocke Schlafzimmerscheibe einschlagen. Egal!

Langsam werde ich nervös. Wo steckst Du? Bist Du zum Mond geflogen oder lapidar nach Mallorca?

Wanderst Du auf den Spuren von Harry Potter oder von König Drosselbart? Hast Du Dich etwa zum neunmonatigen Räuber- Hotzenplotz-Seminar angemeldet. Echt? Du Wahnsinniger! Hoffentlich nicht…

Ich suche Dich. Vorrangig Dich! Nebenbei checke ich leider noch die neue SMS vom gestiefelten Kater. Wo kann ich Dich denn nun tatsächlich auf die Schnelle finden? Keiner kann mir irgendwie helfen. Sitzt Du etwa im Packeis fest? Ich könnte Frau Holle eine E-Mail senden, hab‘ super Kontakte zu ihr. Ich bin schließlich eine Professionelle. Eine professionelle Märchenerzählerin, da hat man auch Kontakte zu Märchenfiguren. Nein! Ich schreibe normalerweise keinen Blödsinn in mein Tagebuch.

Heute Abend lese ich in Sindbads Kneipe aus Tausendundeine Nacht vor. Darauf freue ich mich sehr. Schön wäre es, wenn ich Dich dort finden könnte, bevor ich wie die anderen den Verstand verliere… Hoffentlich kannst Du endlich Gedanken lesen oder kennst zumindest das Versteck meines Tagebuchs im alten Uhrenkasten.

Ich weiß noch nicht, was ich morgen eintragen werde. Udo, der Darsteller des bösen Wolfs aus dem Märchenpark Nirwana will mich heute Nacht heimbringen. Er hat mich schon gefragt, ob er meine große Märchensammlung sehen darf.

©Corina Wagner, April 2012

Verbreiten, teilen, infizieren!

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert