Des Rätsels Puzzleteile
Auf dem Nachhauseweg durch den buntblühenden Stadtpark, versuche ich mir genau in Erinnerung zu rufen, wie sie damals war; versuche die fehlenden Puzzlestücke einzusetzen, die sie mir heute, nach Jahren der Unwissenheit, endlich überreicht hat.
Ich wusste nie viel über sie, wir kamen gut miteinander aus, das reichte. Keiner von uns sprach je von Freundschaft. Sie ging in meine Klasse und wir waren nett zueinander, obwohl meine Freunde sie nicht mochten. Das störte uns beide nicht – so kann man es beschreiben. Sie sprach wenig, aber wenn, dann waren es kluge Sätze mit viel Gehalt. Sie gehörte zu den Außenseitern und wenn sie lachte, tat sie das nur sehr leise und hinter vorgehaltener Hand. Die meiste Zeit jedoch wirkte sie traurig, blickte leer durch Menschen hindurch oder lief, den Blick auf den Boden des Pausenhofs gerichtet, mit hängenden Schultern und Mundwinkeln ziellos umher. Sie war sehr dünn, praktisch nur Haut und Knochen. Ihr schütteres Haar sah aus, als würde sie es sich büschelweise selbst ausreißen und die vielen Hämatome und Schürfwunden erweckten den Eindruck eines sehr schusseligen Menschen.
Ich setze mich auf eine freie Parkbank direkt am See, beobachte die Enten, die sich um mich herum scharen, wohl in der Hoffnung, von mir gefüttert zu werden. Ich habe nichts bei mir, außer meiner schweren Gedanken. Ich erinnere mich noch genau daran, was sie damals wie beiläufig und doch sehr ernst zu mir sagte: „Irgendwann ertrinke ich, ich weiß es und ich habe Angst davor! Ich will, dass es endlich aufhört zu regnen.“ Das war am helllichten Tag bei Sonnenschein und ich wusste nicht, was sie damit meinte. Sie machte keine Anstalten, es mir zu erklären.
Denke ich genau über diese Zeit nach, wirkte sie in der geduckten Haltung und ihrer Zerbrechlichkeit immer so, als fürchte sie sich vor allem und jedem, vor dem Leben. Die regelmäßigen, dummen Sprüche der witzelnden Mitschüler schienen an ihr abzuprallen. Sie versuchte nicht ein einziges Mal zu kontern, als würde sie ihre Umgebung kaum wahrnehmen. Obwohl ich sie respektierte, wollte ich nie so werden. Sie war sozusagen mein persönlicher Antiheld. Damals – vor circa 15 Jahren – konnte ich mir nicht erklären, was ich mit „so“ meinte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es heute weiß. In meinen Augen war sie ein nettes und kluges Mädchen, für das es keinen Grund gab, Mitleid zu empfinden. Das sehe ich auch heute noch so.
Nach der Schulzeit sahen wir uns alle paar Jahre, meist zufällig. Manchmal rief sie mich an, so wie letzte Woche, als sie fragte, ob ich mich mit ihr treffen wolle. Sie sei zurück in der Stadt. Ich hatte keine Ahnung, dass sie weg war.
Unsere Treffen waren immer ein bisschen spannend für mich, da ich nie wusste, was mich diesmal erwarten würde. Vor ungefähr zehn Jahren begegnete ich ihr zufällig und hätte sie beinahe nicht erkannt, so kaputt sah sie aus. Sie war völlig im Diätwahn, obwohl ich sie bis dato nur abgemagert kannte; warf sich diverse Pillen ein und konnte kaum klare Gedanken fassen. Sie war betrunken, lallte wirres Zeug vor sich hin und entleerte die viele Flüssigkeit auf meinem Badezimmerboden, als ich sie mit zu mir nahm. Während ich ihre strähnigen Haare aus dem Gesicht strich, sprach sie davon, dass sich Menschen gerne in ihrem Leid suhlen würden und es irgendwann die anderen seien, die ertrinken, während sie sich längst einen sicheren Anker besorgt hat. Ob ich auch ein Anker sei, fragte sie, bevor sie einschlief. Am nächsten Morgen war sie spurlos verschwunden und ließ mich ratlos zurück.
Als wir uns zuletzt sahen, war sie recht rundlich, zeigte selbstbewusst ihre ungewohnt üppigen Kurven und ihr ebenso ungewohnt volles und gesundes Haar. Das war vor fünf Jahren. Zu dieser Zeit schlitterte sie von einer Affäre in die nächste, wechselte munter zwischen Männern und Frauen ab – doch niemand war ihr wichtig genug, um zu bleiben. Sie berichtete von vielen abenteuerlichen Ausflügen, davon, dass sie nun Steilwandklettern für sich entdeckt habe, von Konzerten und anderen ihrer Erlebnisse, die ich kaum glauben konnte. Das ängstliche Mädchen von früher war wie aufgelöst oder weggesperrt – ich war mir nicht sicher. Sie schien das Leben aufzusaugen, als hätte sie vieles nachzuholen. Sie hatte einen Job, reiste viel umher, machte einen glücklichen Eindruck und sah nie so gut aus, wie zu diesem Zeitpunkt. Sie war wie ausgewechselt und ließ mich erneut mit Worten zurück, die ich mir zwar merken, aber wohl nie verstehen würde.
„Wenn alles ausgetrocknet ist, panieren sich so manche mit deinem Staub ein. Dann glaubst du fälschlicherweise, sie seien dir ähnlich. Kannst du sie zum Schwitzen bringen, bröckelt die äußere Schicht krümelig ab und du erkennst, dass eine Hülle ohne Gewicht übrig bleibt. Schaffst du es nicht, stoße sie einfach zurück ins Wasser.“, hallt es in meinen Gedanken nach, als wäre es gestern gewesen. Bei jedem Treffen hoffte ich ein bisschen, die Antwort auf sie -das Rätsel- zu erhalten.
Als ich heute das Café betrat, in welches wir uns verabredet hatten, winkte sie mich direkt an ihren Tisch. Ich war dankbar dafür, da ich sie vermutlich nicht auf Anhieb erkannt hätte. Sie hat deutlich sichtbar abgenommen, sieht fahl aus und trug ein Kopftuch. Unsere Begrüßung fiel wie immer recht neutral aus, als seien wir es gewohnt, uns regelmäßig zu sehen. Wir freuen uns, sind jedoch nie überschwänglich. In den ganzen Jahren sah ich sie nie überschwänglich. Ebenso neutral und ohne Umschweife begann unser Gespräch. Aus meinem Leben sollte ich ihr erzählen, doch gibt es nicht viel Interessantes. Dann erzählte sie reuelos von den vergangenen Jahren, der turbulentesten Zeit ihres Lebens. Nun sei sie ruhiger geworden. So wie ganz früher, dachte ich im Stillen bei mir.
Eine kleine Wohnung habe sie in der Stadt gemietet und fragte, ob wir uns nun häufiger sehen würden. Das Wasser sei wieder angestiegen und sie brauche vielleicht gelegentlich jemanden, der ihr den nötigen Halt gibt, damit sie den Kopf an der Oberfläche halten kann. Ich verstand nicht und forderte diesmal eine Erklärung. Sie zögerte, nahm das Tuch ab, entblößte ihre nackte Kopfhaut und holte zum ersten Mal aus.
Sie sei mir über die Jahre hinweg dankbar gewesen, keine Fragen gestellt zu haben und wolle nun ehrlich sein. Ich sei die Einzige, die sie immer akzeptiert habe und sie kennt – ich jedoch habe das Gefühl, nichts über sie zu wissen.
Mit ruhiger Stimme erzählte sie von ihrer Chemo, von den quälenden Jahren, von der aufkeimenden Hoffnung, dass nun alles gut werden würde und dem darauf folgenden Absturz. Mir blieb nichts, als mit trockenem Mund und feuchten Augen zuzuhören. Sie sagte, sie habe geglaubt, dass alles was nicht tötet, sie nur härter machen würde. Sie habe sich getäuscht.
Jetzt sitze ich hier, in der untergehenden Sonne, die sich in schönen Mustern auf der Wasseroberfläche spiegelt. Ein Angler, der in seinem Boot auf dem Wasser treibt, wartet in aller Ruhe, ob sich etwas bei einer seiner Ruten tut. Die Enten sind längst zur nächsten Parkbank gewatschelt. Es ist sehr ruhig hier, kaum ein Vogel zwitschert. Am anderen Ende des Sees eine Frau mit ihrem Hund, ein Fahrradfahrer der ohne Helm an ihr vorbei fährt. Ohne Ausnahme belanglos und doch versuche ich alles zu sehen, was mir der Park bietet und frage mich, warum ich die ganzen Jahre über so blind war. Blind für die Details, die nun so offensichtlich scheinen, dass ich sie eigentlich hätte sehen müssen. Heute sah ich es zum ersten Mal in ihren Augen. All die Angst spiegelte sich darin, welche sie die ganzen Jahre über ertragen hatte. Doch sie sagte, die größte Angst habe sie nicht vor dem Tod, sondern davor, das Leben selbst zu verpassen.
