Schon früh hatte sie gelernt, Blumen zu hassen und den Garten dennoch zu lieben.
Sie war gerade mal sieben Jahre alt, als Annika geschickt wurde, um Klosterfrau Melissengeist zu besorgen. Anstandslos und ohne jegliches Hinterfragen bekam sie die blauen Packungen abwechselnd in Apotheke und Drogerie ausgehändigt, manchmal auch mehrmals am Tag. Mit einem mechanischen Haarestrubbeln, wurden sie ihr dann Zuhause abgenommen. Die zwanzig Pfennig Restgeld durfte sie in der Regel behalten. Anfangs machte Annika sich Sorgen und glaubte, der Flascheninhalt sei Medizin für Erwachsene. Dass das Kräutergetränk nicht für Kinder geeignet war, erkannte sie an dem scharfen Geruch, der aus dem Mund ihrer Mutter strömte, während diese nach einem kräftigen Schluck tagsüber trotz Fernseherlärm auf der Couch schlief. Annika spielte derweil überwiegend im Garten, in dem sie allgemein sehr viel Zeit verbrachte. Dort durfte sie Kind sein, baute sich Höhlen aus Geäst, erkundete die Kriechtierwelt und kreierte Matschtorten, während sie vergeblich auf die Genesung wartete.
Auch ihre Mutter verbrachte viele Stunden dort, setzte neue Blumen in die Erde, zupfte das Unkraut, oder schlief sitzend auf der kleinen Holzbank. Wenn Annika sie dort mit hängendem Kopf, den erdigen Fingern im Schoß und Spucketropfen auf der flach atmenden Brust antraf, hatte sie Angst vor ihr und traute sich kaum einen Mucks von sich zu geben. Sobald sie zu laut war und somit ihre Mutter weckte, musste sie oftmals für sie zum Zigarettenautomaten zwei Straßen weiter gehen. Meist versuchte Annika dies so lange rauszuzögern, bis es dunkel war und niemand sie dabei beobachten konnte, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um die fünf Mark in den Schlitz zu werfen. Ihr Vater, der immer erst sehr spät von der Arbeit kam, bekam von alldem selten etwas mit.
Mit den Worten, sie solle sich ansehen, wie toll die Geranien momentan blühen, wurde sie häufig in den Garten geschickt, damit die beiden ungestört und lautstark streiten konnten. Sie mochte es, wenn es regnete – dann konnte sie sich unter dem kleinen grünen Regenschirm mit der gelben Ente darauf, vor den mitleidigen Blicken der Nachbarn schützen und den prasselnden Regentropfen lauschen, bis sie wieder rein durfte. Annika hörte stets jedes einzelne Wort, obwohl sie nicht wollte – irgendwann wurde es dann ganz still. Den Schirm bekam sie, zusammen mit einem Farbmalkasten, von ihrem Papa zum Geburtstag. Vom monatlichen Geld abgesehen, war das sein letztes Geschenk an sie. Ihre Mutter sprach oft vom „Rabenvater“, wenn es um ihn ging, doch Annika mochte Raben schon immer. Sie schienen ihr so unnahbar und doch so frei. Sobald sie einen Versuch startete und nach ihm fragte, blickten leere Augen in Richtung Garten und fragten, ob sie schon gesehen habe, wie schön die Forsythien blühen. Auf so viele Fragen bekam sie nie eine Antwort.
Jedes mal, wenn Annika nach der Schule vor verschlossener Tür stand, konnte sie die Hausaufgaben meist bei den Nachbarn machen, bei denen sie auch regelmäßig essen durfte. Als ihre immer dünner werdende und doch so aufgequollene Mutter dann wieder wach, oder der Männerbesuch weg war, fütterte Annika sie, um kurz darauf ihre Kotze wegzuwischen. Sie glaubte, sie müsse sich einfach nur lange genug um sie kümmern, bis es ihr wieder gut ginge und sie endlich glücklich sein könnten. Dann würde ihr Papa auch sicher zurückkommen. Sie wollte gerne, dass ihre Mutter stolz auf sie ist und ebenso gerne wollte sie stolz auf ihre Mutter sein. Meist schämte sie sich einfach nur für sie.
Abends im Kinderzimmer, kniete sie regelmäßig vor ihrem Bett und betete. Manchmal wünschte sie sich, in einer anderen Stadt, bei einer anderen Familie aufzuwachsen und glaubte, dann wäre alles gut – so wie bei den anderen Kindern in ihrer Klasse. Hin und wieder wollte sie, dass ihre Mutter jemand anderes sein soll und sie nicht mehr versuchen müsste, sie nicht zu hassen. Und an manchen Tagen wünschte sie nur noch, sie würde an dem aufgesetzten Lächeln ersticken, welches ihr der Alkohol so oft ins Gesicht legte, ohne die Traurigkeit zu überzeichnen, die Annika so hilflos machte. Keiner der Wünsche ging je in Erfüllung und irgendwann hörte sie auf, an Gott zu glauben.
Es folgte ein jahrelanges Auf und Ab, in dem Annika immer wieder versuchte, ihre Mutter aus der Isolation zu retten. Sie glaubte, sie würde es schaffen, indem sie einfach genug Kraft aufbrächte und regelmäßig den Inhalt der vielen Flaschen ins Klo kippte und die Tabletten, die müde und gleichgültig machen, gleich hinterher warf. So gleichgültig, dass es nicht mal zum Streiten reichte, als sie ihr die markierten Flaschen unter die betrunkene Nase hielt. Ob sie schon die schönen Gladiolen gesehen habe, war die Reaktion auf Konfrontation. Alles was Annika zu sagen hatte, schien auf taube Ohren zu stoßen, sodass sie irgendwann verstummte, während sie innerlich schrie.
An Tagen, an denen ihrer Mutter nicht mehr einfiel, wie ihre Tochter heißt und sie mit „hey du“ ansprach, wurde Annika bewusst, dass sie die ganzen Jahre über nie gehasst, aber ebenso wenig geliebt wurde. Dies konnte sie kaum ertragen und erschwerte ihr, sich die wachsende Verachtung nicht ansehen zu lassen. Sie fing zwar an, zu verstehen, dass es die Krankheit ist, die sie verachtet und nicht ihre Mutter selbst – dennoch hielt sie es nicht lange in ihrer Nähe aus, würde sich am liebsten, wie früher schon, in den geheimen Ecken des Gartens verstecken und erst Stunden später wieder auftauchen. Einzig das schlechte Gewissen brachte sie dazu, hin und wieder nach ihrer Mutter zu sehen. Als Annika während eines Telefonats erzählte, dass sie per Zufall ihren Vater mit seiner neuen Familie getroffen habe, lenkte ihre Mutter das Gespräch sofort auf die schönen Hyazinthen. Sie wusste daraufhin genau, dass beim nächsten Besuch nur Gebrochenes auf sie warten würde. Gebrochene Versprechen, gebrochenes Glas, eine gebrochene Frau.
Wenn Annika heute in den Spiegel sieht, sieht sie ihre Mutter und erkennt zum Glück doch nichts von ihr wieder. Nun ist der Garten verwildert und nur noch ein einziger Quadratmeter Grün wird regelmäßig gepflegt. Annika bringt Blumen mit – sie hätten ihr bestimmt gefallen.
